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30 Trescolmen

Höhe: 691 m
Dauer: 2:30 Stunden

Im Reich der Sagen

Bergseen der italienischen Schweiz Trescolmen 30 Unter der Brücke von Corneira, gleich nach Beginn der Wanderung, rauscht die Calancasca zusehends gelassener dahin und setzt sich als kristallene Lache in Szene, als wollte sie daran erinnern, dass sich das Wasser in diesem Ausflug nicht mit einer Nebenrolle an der Seite der Lärchen oder des endlosen Weidelands begnügen wird. Die Hauptrolle spielt zu guter Letzt der Trescolmen-See, nachdem er den Wildbach Campalesc unterwegs gewissermassen die Geräuschkulisse überlassen hat, die das Tal tiefer und den gegenüberliegenden Hang weiter entfernt erscheinen lässt. Die Stimme des Campalesc gibt dem Wanderer das Geleit, bis dieser seinen Lauf überquert und ihn, weiter aufsteigend, zur Linken hinter sich lässt, als wollte er sich beim Weggehen in aller Ruhe auf eine Begegnung vorbereiten, die ungeteilte, staunende Aufmerksamkeit verdient: die Begegnung mit dem Amphitheater der Alp Trescolmen.

Etwas Unwirkliches haftet dieser Erscheinung an, die den Anschein erweckt, gerade erst vom Licht unter Verwendung der Grasflächen, der Felsen und des Himmels erschaffen worden zu sein. Angesichts dieses Schauspiels steigen vielfältige Empfindungen in einem hoch: ein Gefühl der Erhabenheit und der Freiheit, Zufriedenheit und Stolz darüber, Teil einer Szenerie mit den frischen Farben ihrer zauberhaft unerreichbaren Ferne zu sein. In dieser Endlosigkeit wirkt die Alphütte noch kleiner, und man stellt sich die ersten Hirten vor, die sie bewohnten: schreckensbleich beim Anblick der Weite mit ihrem Wetterleuchten bei Tag und den Sagen bei Nacht. Auch am Trescolmen-See ist die Unendlichkeit der Umgebung angsteinflössend.

Aus diesem Grunde hält er sich abseits, fast als versteckte er sich unter den steil abfallenden Hängen. Allerdings geht es ihm dabei auch um die angemessene Inszenierung seiner einmaligen Schönheit, die zu ihrer Vollendung ausgiebiger und entspannter Bewunderung bedarf: Zum Beispiel wenn die ersten Sonnenstrahlen seine Wasser kaum merklich streifen, als fürchteten sie die Kälte, und dann in sie eintauchen, um das Grün aus der Tiefe zu holen; oder wenn die ersten Schatten ihn grösser scheinen lassen und die Nacht seine Umrisse verwischt, derer einzig der sich in ihm spiegelnde Mond gewahr wird. Doch um den wahren Zauber des Trescolmen zu erfassen, muss man hinaufklettern und ihn aus der Höhe betrachten. Denn erkennt man die schier majestätische Würde, durch die er sich von allen anderen Bergseen abhebt: ein See, der sich die Felsen zu Zuschauern und die Steilhänge zu Leibwachen erkoren hat, sich die Bäume vom Leib hält und ihnen eine neugierig machende, ehrerbietige Zurückhaltung aufzwingt. An seinen Ufern harren dagegen die grossen Felsplatten wie glatte Sessel all derer, die das Wogen oder das Schweigen des Wassers miterleben möchten.

Und die Wasser des Trescolmen sind erfüllt von ihrem eigenen Leben: Da ergiesst sich das Wasser eilends in den See, nachdem geheimnisvolle Brisen es über eine kleine farblose Kaskade gepeitscht haben, und da gräbt sich dunkles Wasser in den nachtschwarzen Stein; da möchte sich Wasser in Weide und Weide in Wasser wandeln und schlängelt sich zwischen Steinblöcken hindurch, die es ohne grosse Überzeugung aufzuhalten suchen; da verschwindet Wasser und gibt im Untergrund die Laute eines gehetzten Tieres von sich, bis es weiter unten jäh verstummt und im Wanderer der Gedanke an sterbendes Wasser aufkommt. Ein Steinmännchen gemahnt in dieser herrlichen Mulde, wo der See ein wechselhaftes Fenster ist, an die Nichtigkeit des Menschen, dem die Felsen sogar einen Teil des Uferrundgangs versagen. Vermutlich bezwecken sie damit die Abschirmung der Stellen, wo das Wasser tiefer ist und wie in jedem See seine Geheimnisse hütet; diese werden einzig den Farben offenbart, die zu fester Stunde in die Tiefe tauchen und im Schlick eingegraben verharren, bevor sie wieder auftauchen und auch der Schlamm zu Schönheit erwacht. Die gezackten Grate, die lawinengefährdeten Steilhänge, die rhododendrenbewachsenen Felswände und die Gerölllawinen, die knapp vor dem endgültigen Absturz zum Stillstand gekommen sind, ergeben ein Bild, in dem der See mit der Selbstverständlichkeit eines selbstbewussten Charmeurs beeindruckt, der sämtliche Register zu ziehen weiss.

Jedenfalls zieht der Trescolmen der Anmut ständig blauer Wogen das Spiel der Kontraste vor, wo Böen ihn zerfetzen und die Splitter zu einem neuen Ganzen zusammengefügt werden: sanft oder rauh, heiter oder düster, kurzum unberechenbar, wie alles, was er geben oder verbergen kann. Geben kann er zum Beispiel das Wunder der Morgendämmerung, die ihn sorgfältig mit Rottönen überzieht; verbergen kann er das Spiel der Nebel, die auf seiner Oberfläche tanzen und winzige, lebhafte Wellen erzeugen. Seine Ton- und Klangbrandungen verleihen ihm etwas Sagenumwobenes: Junker fordern ihn heraus und ertrinken, Jungfrauen entsteigen seinen schimmernden Wogen, Hexen bedienen sich seiner Wasser als Liebestrunk, Pagen singen in seinen Abgründen, Adler tragen auf ewig sein blasses Nachmittagslila im Gefieder, und Steinböcke verwandeln sich in Einhörner, wenn sie sich an seinem Widerschein laben. Und noch während man den Trescolmen hinter sich lässt, ist man sich der Rückkehr gewiss: Diese Gewissheit ist sein Zauber, und der lateinische Name ("transculmine") einer Stätte, die vom unermesslichen Genuss der Erinnerung überdauert wird, erwacht zu neuer Bedeutung.