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06 Chiera

Höhe: 621 m
Dauer: 2 Stunden

Spiel der Kontraste

Der Ausflug von Somprei ist nicht sehr anstrengend. Schon bald nach dem Tannenwald rufen ausgedehnte, flache Hochebenen die Vorstellung von noch nicht ganz ausgetrockneten Seelein wach. Der Ort scheint wie geschaffen, um zwischen den niedrigen Ufern Wasser aufzunehmen, in dem sich die Landschaft widerspiegelt, und so den See beseelt. Es ist, als ob sich die Oberfläche verändern und gleich einem Parabolspiegel das Panorama aufnehmen würde, in dem jenseits des Tals zwischen den Gipfeln die Gletscher leuchten.
Man erreicht zuerst den kleinen See: hoch oben scheint ihn das Kreuz des Pécianett vor Erdrutschen zu schützen. Da kein einziger Baum Widerstand bietet, könnte nämlich ein einziger Erdsturz den See in einem Augenblick zuschütten und ihn mit seiner morgendlich steingrauen Farbe für immer verschwinden lassen. Sobald ein bisschen Wind aufkommt, gleicht die Farbe des Wassers einer ungeschliffenen Granitplatte oder einem Stück Zinn. Wenn die Sonne dann aber hoch darüber steht, wandelt sich das Grau in Blau, das dennoch nicht leuchtet und stumpf bleibt, als ob vom Seegrund ein indigoblauer Strahl heraufsprudelte, der vor seinem Auftauchen noch die Nuancen des Zuflusses des kleinen Chiera- Sees aufnimmt. Der bildet ein Delta und lässt schon jetzt das Vorhaben erkennen, den See eines Tages in zwei Hälften teilen zu wollen. Nur eine Geländestufe und wenige Höhenmeter trennen den kleinen Chiera-See vom grossen. Sie reichen jedoch aus, um jedem der beiden ein eigenes Erscheinungsbild, einen eigenen Charakter zu geben und die augenfällige Neigung, sich heiter oder ernst, zurückhaltend oder auffällig, beeindruckend oder Bewunderung hervorrufend zu zeigen. Der grosse Chiera-See mit seinem kontrastreichen Ufer liegt 17 m höher, ist 7mal so gross wie der kleine See und hat so bessere Möglichkeiten, seine Umgebung durch Spiegelungen auszudrücken und aufzuwerten. Die beachtliche Tiefe von 72 m und das Wasservolumen von 1,2 Mio. m3 lassen die eiszeitliche Herkunft deutlich erkennen.

Welch ein Kontrast zwischen dem südlichen und dem nördlichen Ufer! Das südliche Ufer ist grasbewachsen und lädt zum Picknicken ein. Man sitzt bequem und fühlt sich im Schutze der unerwarteten Anmut und des Schweigens freundlich aufgenommen. Das Ufer gleicht dem Schlag der letzten Welle, die mitten in ihrer Bewegung angehalten wird. Schon bei einer geringfügigen Luftbewegung vernimmt man die Stimmen der kleinen Bäche, die den See speisen, und die je nach dem Gestein, über das sie herunterrieseln, grau oder grün sind.
Im Norden hingegen sind die Ufer steil und unwegsam. Das Wasser ist undurchsichtig und erscheint so, wie es bereits 1918 von Francesco Chiesa beschrieben wurde: "Ein Gewässer von stahlgrauer Farbe, flach und eben inmitten der steilen Schuttkegel, eisig und unbeweglich wie aus Marmor".
Aus den Felsen scheint ein schillernder Felsstaub hervorzudringen, der sich zu einer bestimmten Stunde auflöst, wenn das Licht in den See eintaucht. Dieser See verbirgt seine Ausflüsse nicht wie der kleine Chiera, von dem man kaum glauben kann, dass sein Wasser im Val Piora bei Pertusio in den Brenno fliesst.
Einige Firnfelder berühren und speisen den oberen Chiera-See. In ihrem unteren Teil sind sie gelblich, und wenn man sie so sieht, denkt man an blühendes Moos, an das Fell vorzeitlicher Murmeltiere oder an den See selbst, von dessen Grund ein dichter Nebel aufzusteigen scheint.
Die beiden Seen sind auch in ihrer Farbe verschieden: die im oberen ist weniger intensiv, als ob der See an sein grösseres Volumen erinnern und glauben machen wollte, dass davon das schwächere Türkis abhinge. Im unteren See taucht das Türkis auf wunderbare Art an die Oberfläche, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat. Dann scheint es, als werde das alte eiserne Kreuz auf dem Pécianett durch den Glanz ringsherum derart belebt, als wolle es sich zum Fluge erheben.