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04 Alzasca

Höhe: 1477 m
Dauer: 5 Stunden

Gross und schön

Zuerst kommt der Fluss – er wird bei Someo von der Brücke überquert, die über der Maggia auf- und niederschwingt, als würden sie die Wellen selber tragen. Danach kommt der Fels, zu dessen Beginn jemand die Höhenzahl geschrieben hat: 375 m. Es bleibt dann den Muskeln des Wanderers überlassen, die zum Ziel noch fehlenden Höhenmeter auszurechnen. In diesem Felsen hat der Mensch einen gewagten Weg aus Stufen angelegt, eine davon mit der Jahreszahl 1734. Die Anlage versetzt in Staunen, wenn man betrachtet, wie selbst schwierigste Abschnitte überwunden werden. Beim Aufstieg wundert man sich auch über den Erfindungsgeist der Wegbauer, die mal gegraben, mal herausgehauen, dann wieder hinzugefügt haben, um den Älplern und den Kühen den Aufstieg zu ermöglichen. Es heisst, dass die Kühe einst den Weg auf die Höhen alleine fanden, und diesen fast senkrechten Weg auch begingen, wenn der Saladino-Wasserfall zugefroren war.
Heute ist der Wasserfall nur noch aktiv, wenn ihm das Kraftwerk etwas Wasser gibt. Dann wiederholt sich das gewaltige Schauspiel, das einst den heimkehrenden Auswanderern so sehr gefiel, dass sie den Wasserfall 1883 durch eine Ableitung noch höher machten. “Mit dieser Veränderung” schreibt Federico Balli in seinem Führer, “gewinnt der Wasserfall an Originalität, was er an Kraft und Weite verliert”.

Auf den Höhen ist die Welt dann schlagartig anders: nach soviel Felsen scheint es unglaublich, oberhalb der erst gerade überwundenen steilen Wand nochmals Wiesen und Wälder anzutreffen. Doch das Grün setzt sich fort, geht in Tannenwald und Alpweide über und begleitet den Wanderer bis zur Hütte, die ruhig in die Runde blickt und die Gipfel beim Namen nennt, die den Talgrund noch ferner erscheinen lassen. Die Berghütte, gastlich und unkompliziert geblieben, ist weder Restaurant noch Hotel und zu Recht stolz auf ihre rustikale Einfachheit. Von der Hütte aus sieht man den See noch nicht. Er lässt auf sich warten, als ob er wüsste, dass er einer der grössten und schönsten des Maggiatals ist. Man muss nochmals wandern, nochmals aufsteigen, um ihn zu erreichen. Seine Anwesenheit erahnt man jedoch schon vorher: das Wasser formt kleine Mulden, winzige Rinnsale und kurze Mäander.

All dies könnte, zusammen mit den platschenden Fröschen, welche die von Schlammfluss öligen Spiegelungen durchbrechen, auch einen Garten verschönern. Dann endlich erscheint der See: wahrhaftig gross und schön! Von einem Ufer gleitet das Gras sanft hinein, und sanft ändert es seine Farbe. Man könnte auch meinen, dass sich Wasser in Gras wandelt, wenn es vom Wind gegen das Ufer getrieben wird und auf der Oberfläche das Flimmern des Lichts verteilt, das tiefblau aus der Tiefe aufzusteigen scheint. Der See strahlt eine vornehme Feierlichkeit aus, trotz der hässlichen Spuren, die der Mensch hinterlassen hat. Er ist der erste See am Westhang des Maggiatals, den man, von Süden her, antrifft. Somit hat er auch eine symbolische Mittlerrolle zwischen den Gipfeln in seinem Rücken und den einzeln stehenden Lärchen, die wie die Gipfel ebenfalls ihre Freiheit haben wollen. Wie alle Bergseen sollte man auch diesen von jeder Seite bewundern: man sieht so, wie sich die Farben ändern, wie sie sich über und unter Wasser vermischen, sich wieder trennen und vereinigen. Es bilden sich bewegliche oder unbewegliche, gesammelte oder verstreute neue Nuancen, andere Färbungen, die noch keinen Namen haben, für die man jedoch Namen finden müsste, die teils bei den Edelsteinen, teils bei den Blumen zu entlehnen wären. Schliesslich sollte man weiter hinaufsteigen und den See in seinen Umrissen anschauen, wie sich die Ufer das Grau und Grün aufteilen, wie verschiedene Tönungen auftauchen, sich wie Wolken ausbreiten und zugleich deren Schatten sein könnten. Wenn dann die wirklichen Wolken hervorkommen, erscheint der See plötzlich viel tiefer und älter. Dann sollte man doch wieder auf die Sonne warten, um im See das funkelnde Licht von vielen glitzernden Forellen zu sehen, jenes Licht, das dem Alzasca-See immer wieder den ersten jubelnden Augenblick neuen Lebens verleiht.