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Der Cassis-Moment

22.08.2017

Basler Zeitung, 22.8.2017

Ignazio Cassis entsorgt sein Sofa nicht, liebt seine Frau und will Bundesrat werden – ein Besuch in Montagnola

von Alessandra Paone, Montagnola

Was schreiben über einen Mann, der in den vergangenen Wochen schon alles gefragt wurde. Den die Schweizer Medien durchleuchtet haben, von seinen politischen Positionen bis hin zu seinem blau-weiss geblumten Sofa. Der im Bundeshaus, beim Filmfestival in Locarno und singend in seinem Wohnzimmer gefilmt und fotografiert wurde. Über den seine Gegner sagen, dass er als Bundesratskandidat nur infrage komme, weil er Tessiner ist. Dieselben, die ihm Frauenfeindlichkeit vorwerfen, weil er Ambitionen hat und niemandem den Vortritt lassen will, selbst einer Frau nicht. Die ihn «Krankencassis» schimpfen, weil er als Präsident des Krankenkassenverbandes Curafutura eben die Interessen der Krankenkassen vertritt und 180000 Franken im Jahr verdient. Den seine Anhänger wiederum als charmant und integrierend bezeichnen.

Eine Frage, mindestens, ist noch offen. Hat Ignazio Cassis das Blumensofa aus seinem Haus entfernt? Die Basler Zeitung hat den Tessiner FDP-Nationalrat, der am 20. September mit grosser Wahrscheinlichkeit zur Wahl für die Nachfolge von Bundesrat Didier Burkhalter antreten wird, vor einer Woche im Hotel Bellevue Bellavista in Montagnola getroffen. Cassis, 56 Jahre alt, sagt: «Nein, uns gefällt das Sofa.»

Bellavista, weil die Aussicht auf den Lago di Lugano und den Monte Lema umwerfend ist. Montagnola ist eine von vier kleinen Ortschaften, die zur Gemeinde Collina d’Oro, dem Goldhügel, gehören. Sie liegt knapp eine Viertelstunde mit dem Auto von Lugano entfernt. Der Schriftsteller Herrmann Hesse lebte einst dort. Seit fünfzehn Jahren wohnt auch Cassis mit seiner Frau Paola Rodoni in Montagnola.

Auf der Fahrt zum Treffpunkt erzählt die Taxifahrerin, eine gebürtige Iranerin, die seit 25 Jahren im Tessin lebt, dass sie il dottor Cassis erst zwei-, dreimal nach Hause gefahren habe. Ein sehr freundlicher und bescheidener Mann. Das hätten auch ihre Kollegen gesagt. Sie kenne ihn vor allem vom Fernsehen. «Ich hoffe, dass er gewählt wird. Einen besseren Bundesrat könnte ich mir nicht vorstellen.»

Der Weg führt vorbei an einen grossen grünen Park; hohe Zypressen säumen die Allee zur Kirche von Sant’ Abbondio. Weiter oben befindet sich die Tasis, The American School in Switzerland, eine internationale Privatschule mit über 500 Schülern aus 50 verschiedenen Ländern. Der Campus mit seinen pastellfarbenen Häuschen strahlt eine sanfte Verträumtheit aus. Wie im Übrigen die ganze Umgebung. Es ist wie in einem Märchendorf, bewohnt von sonnenverwöhnten, wohlhabenden Menschen. Je weiter man hinauffährt, desto grösser werden die Villen. Zu den prächtigsten gehört auch jene, in der Geoerge Harrison von den Beatles vor seinem Tod zeitweise gewohnt hat.

Ignazio Cassis hat einen Tisch auf der Bellavista-Terrasse reserviert. Die Fahrt von Basel ins Tessin solle sich lohnen, hatte er am Telefon gesagt. Er erscheint wenige Minuten nach halb zwölf in einem hellgrauen Anzug und einem hellblauen Hemd mit weissen, aufgestickten Pünktchen. Dazu trägt er dunkelblaue Freizeitschuhe mit weisser Sohle. Einen ähnlichen Anzug trug Cassis auch am Nationalfeiertag, als ihn die Tessiner FDP zum Bundesratskandidaten nominierte – statt dem Hemd wählte er an jenem Tag ein rotes T-Shirt mit einem Schweizer Kreuz. Er ist mit dem Auto gekommen, einen weiss-grünen Eletro-Smart. «Buongiorno», sagt Cassis strahlend.

Wir unterhalten uns auf italienisch, was für Ignazio Cassis weit mehr ist als nur seine Muttersprache. Italienisch ist Ausdruck seiner Lebensweise, seines Wesens. Die Sprache ist, wie er sagt, nicht nur eine Aneinanderreihung von Worten. Sie zeigt, wie jemand funktioniert; sie zieht die Grenzen des Kulturraums, in dem man sich bewegt. «Es reicht nicht, die Sprache zu beherrschen, um einen Witz zu verstehen. Es geht um Identität», sagt Cassis. Weil er in Zürich und Lausanne studiert hat, spricht er neben Italienisch auch perfekt Deutsch und Französisch.

Cassis’ Kulturraum reicht über die Schweizer Grenze hinaus. Er wuchs in Sessa in der Region Malcantone auf, nur wenige Kilometer von Italien entfernt. Als Kind und Jugendlicher war seine Stadt Luino, nicht Lugano. Die Landesgrenze – sie war nur eine symbolische. Anders als mancher Tessiner leugnet Cassis die Ähnlichkit der Ticinesi zu den Italienern nicht. Er spricht vom transalpinischen Syndrom und sagt: «Wir Tessiner müssen unser Schweizersein erfinden, um uns von den Italienern abzuheben.» Dies habe auch mit der geschichtlichen Vergangenheit des Tessins zu tun. Das Gebiet wurde lange fremdbeherrscht, von den Bischöfen von Mailand und Como, den Herren von Uri.

Der Mann der Stunde

Früher sei diese Verkrampftheit, das Gefühl nicht dazuzugehören, zudem dadurch verstärkt worden, dass die Deutschweizer nicht zwischen Tessinern und Italienern unterschieden. «Für den Ottonormal-Bürger waren wir ein und dasselbe.» Als Medizinstudent in Zürich, er war 22 Jahre alt, wollte er in den Ferien am Universitätsspital arbeiten. Als er dort anrief und sich in seinem damals noch gebrochenen Deutsch um eine Stelle bewarb, fragte ihn die Sekretärin genervt: «Sind Sie Italiener?» Er antwortete: «Nein, Schweizer – Tessiner.» Und die Sekretärin: «Oh, bitte entschuldigen Sie.»

Cassis stört es, dass seine Bundesratskandidatur auf das Tessin reduziert wird. Es gehe nicht in erster Linie um seinen Geburtskanton, sondern um eine ganze Sprach- und Kulturregion, um die italienische Schweiz. Dennoch kann es Cassis nicht leugnen, dass bei einer Wahl vor allem die Ticinesi jubeln würden. Seit dem Rücktritt von Flavio Cotti im Jahr 1999 wartet der Südkanton auf einen eigenen Bundesrat. Zuletzt versuchte es der Lega-Regierungsrat Norman Gobbi. Er scheiterte aber an Guy Parmelin, der 2015 für die zurückgetretene Eveline Widmer-Schlumpf gewählt wurde.

Für Cassis ist es bereits die zweite Kandidatur. 2009 liess er sich vom damaligen FDP-Präsidenten Fulvio Pelli, ebenfalls ein Tessiner, überreden, als sogenannter Fahnenträger für die Nachfolge von Hans-Rudolf Merz anzutreten. Er erhielt insgesamt zwölf Stimmen. «Ich habe mein Ziel sogar um zwei Stimmen überboten», erzählt Cassis. Er habe solche Angst gehabt, keine einzige Stimme zu erhalten, dass er vor der Wahl wie wild im Parlament geweibelt habe. Der Politiker war damals erst seit zwei Jahren im Nationalrat und hatte gerade begonnen zu verstehen, wie der Ratsbetrieb funktioniert.

Heute ist seine Ausgangslage entschieden besser: Er ist Fraktionschef der FDP und präsidiert die einflussreiche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. Als Krankenkassenvertreter und ehemaliger Kantonsarzt sticht er vor allem in Gesundheitsfragen hervor. Fulvio Pelli, mit dem die Basler Zeitung telefoniert hat, schätzt Cassis’ Chancen als sehr hoch ein. Neben seinen fachlichen Qualitäten sei auch der Zeitpunkt sehr günstig. «Er schnappt niemandem den Sitz weg: Sowohl die Deutschschweiz als auch die Romandie sind im Bundesrat vertreten.»

Es war ein Wechselspiel von Glück und Zufall, dass die politische und ein Stück weit auch die berufliche Karriere von Ignazio Cassis leitete. Er hatte schon alle Vorbereitungen getroffen, um Hals-, Nasen-, Ohrenspezialist zu werden, als er über einen Auftrag Einblick in die Präventionsmedizin erhielt und sich immer intensiver damit zu beschäftigen begann. Später bot sich ihm die Gelegenheit zum Kantonsarzt.

Bei den Gesamterneuerungswahlen 2003 wünschten sich die Freisinnigen einen Mediziner in den eigenen Reihen. «Wir hatten nur Juristen und Vertreter der Wirtschaft», sagt Fulvio Pelli. Cassis war der geeignete Kandidat. Dass er kaum politische Erfahrung vorweisen konnte, war nebensächlich. Er verpasste die Wahl zwar, rückte dann aber 2007 für Laura Sadis nach.

Schlüsselmomente in der Bundespolitik wurden zu Cassis-Momenten, ohne dass er bewusst darauf hinarbeitete. Das war bei der Besetzung des FDP-Fraktionspräsidiums 2015 der Fall und ist es auch jetzt bei der Ersatzwahl im Bundesrat. Es passt: für Cassis, die meisten in seiner Partei und einen grossen Teil des Parlaments. Im Unterschied zum anderen wichtigen Tessiner Politiker, dem CVP-Ständerat und Fraktionschef Filippo Lombardi. Die Voraussetzungen zum Bundesrat waren bei ihm vorhanden, mehr noch als bei Cassis, genauso seine Ambitionen. Doch es passte nie. Über Jahre hinweg prägte sein Name die Politik in Bern, zum Mann der Stunde wurde er aber nie.

Ausser Cassis wollen auch die Waadtländer Nationalrätin Isabelle Moret und der Genfer Staatsrat Pierre Maudet Didier Burkhalter im Bundesrat beerben. Die FDP wird dem Parlament mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Zweierticket zur Wahl vorschlagen.

Ins Hotel Bellavista kommt Ignazio Cassis oft mit seiner Frau essen, meistens am Wochenende, wenn er von der Politik und der Arbeit Pause macht. Während den Sessionen wohnt Cassis unter der Woche in einer kleinen Wohnung in Bern. Er weiss noch nicht, ob er diese im Fall einer Wahl zum Bundesrat behalten wird. Das kommt auf die Sicherheitsbestimmungen an. Es gibt noch vieles, das geklärt werden muss.

Seine Frau Paola wird in jedem Fall zu Beginn in Montagnola bleiben. Es ist ihr Wunsch. Sie möchte so wenig in Erscheinung treten wie nur möglich und hat ihren Mann auch schon gewarnt: «Nur, dass Du es weisst», habe sie gesagt, «solltest Du Bundesrat werden, werde ich mich ähnlich verhalten wie die Frau von Schneider-Ammann – diskret.»

Cassis lacht herzhaft. Vor allem will Paola vermeiden, dass die Öffentlichkeit über die Medien an ihrem Privatleben teilnimmt. Die Homestory im Blick und die anschliessenden Diskussionen über ihr Sofa und den Möbelgeschmack seien ihr zu weit gegangen. «Sie hat sich aus Liebe dazu bereit erklärt. Ich werde aus Liebe ihren Wunsch respektieren.»

Ignazio Cassis und Paola Rodoni Cassis sind seit 25 Jahren verheiratet, sie haben keine Kinder. Sie hätten gerne welche gehabt, es hat aber nicht geklappt. Hat dieser Umstand sie zusammengeschweisst? «Schwer zu sagen. Wer weiss, wie es geworden wäre, wenn wir Kinder gehabt hätten», sagt er. Ihre Liebe ist jedenfalls stark. Vielleicht, weil sie sich nur an den Wochenenden sehen und sich jedes Mal aufs Neue entdecken. Vor allem aber, weil sie immer füreinander da sind. «Paola è la mia colonna», sagt er. Sie ist seine Säule.

Die beiden haben sich im Spital in Zürich kennengelernt. Wie Cassis ist auch seine Frau Ärztin, eine Radiologin. Im Gegensatz zu ihm stammt sie aber aus dem Norden des Tessins, aus Biasca. Wo die Leute ernster sind, spröder auch, wie die Felsen, die sie umgeben. «Paola ist wie ein von Samt überzogener Diamant», sagt Cassis und benutzt zur Beschreibung seine Hände. Sie ist ein sanfter Mensch, aber gleichzeitig unglaublich stark.

Unter Frauen

Abgesehen von Paola haben Frauen immer eine wichtige Rolle gespielt in Ignazio Cassis’ Leben. Er wuchs als einziger Junge mit zwei älteren und einer jüngeren Schwester auf. Zu seiner 83-jährigen Mutter Mariarosa, eine strenggläubige Katholikin, hat er immer noch eine enge Beziehung. Als einziger Junge ist er ihr Liebling. Sie riet ihm von einer Bundesratskandidatur ab. «Tu Dir das nicht an», habe sie ihm gesagt.

Er tut es doch. Warum? Bundesrat zu sein, sei wie eine zweite Haut, sagte der scheidende Magistrat Didier Burkhalter. Eine Haut, die zu eng werden kann. Cassis sagt: «Die Neugier war immer der Motor in meinem Leben. Ich will es versuchen.» Die Schweiz, so sein Wunsch, solle wieder liberaler werden. In den letzten Jahren sei der Staat auch dort entwickelt worden, wo es ihn nicht braucht. «Liberal ist nicht gleich anarchisch. Die 68er sind endgültig vorbei.»

Vor ein paar Tagen besuchte Cassis seine Mutter in Sessa. Es duftete nach frischem Heu, wie damals, als er noch Kind war. Sein Vater Gino lebt nicht mehr. Er war Landwirt und im Gegensatz zu seiner Frau kein Freund der Kirche. Später arbeitete er für die Winterthur-Versicherung. Er war der erste Versicherer in der Gegend. Im Malcantone hat er jeden versichert. Cassis nimmt sein Smartphone und zeigt ein Foto, auf dem eine kaputte Türklingel zu sehen ist. «Meine Mutter hat mich gebeten, sie zu reparieren», sagt er. Für seine Schwester soll er eine Excel-Tabelle erstellen. «Die Arbeit geht mir nicht aus, wenn ich nicht Bundesrat werde.»

Eineinhalb Stunden sind inzwischen vergangen. Wir bestellen. Ignazio Cassis entscheidet sich für einen Orangensalat. Etwas Leichtes, wie er betont. Er habe am Abend noch ein grosses Essen und müsse auf seine Linie schauen, jetzt wo er wegen der vielen Termine nicht mehr täglich zum Joggen komme. Die zweite Haut, sie klebt bereits an ihm.

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Ignazio Cassis

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