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Eine Sprache ist Vehikel von Kulturen

28.08.2017

Bündner Tagblatt, 28.8.2017

Der Tessiner FDP-Bundesratskandidat Ignazio Cassis war gestern zu Gast bei Pro Grigioni Italiano in Chur. Der Favorit für den frei werdenden Bundesratssitz bekräftigt im Interview, Vertreter der ganzen «Italianità» zu sein.

   - Nadja Maurer

BÜNDNER TAGBLATT: Ignazio Cassis, Sie sind auf Einladung von Pro Grigioni Italiano nach Chur gekommen und haben sich vorgestellt. Die Bündner Sprachenorganisation hat vergangene Woche in einem Brief an 88 Mitglieder der Bundesversammlung dazu aufgerufen, Sie bei der Bundesratswahl zu unterstützen. Wie wichtig ist diese Unterstützung aus Graubünden für Sie?

IGNAZIO CASSIS: Diese Unterstützung ist symbolisch sehr wichtig. Die Schweizer Verfassung sagt im Artikel 175 Absatz 4, dass die Sprachgebiete in der Landesregierung angemessen zu berücksichtigen sind. Es taucht immer wieder die Frage auf, ob ich nur ein Vertreter des Tessins oder ein Vertreter der ganzen italienischsprachigen Schweiz bin. Diese Frage können nur Nicht-Tessiner beantworten. Und das hat Pro Grigioni italiano gemacht, in dem sie mich nach Chur eingeladen haben. Auch die Lia Rumantscha war vertreten. Das zeigt, dass auch die Rumantschia froh wäre über einen Bundesrat aus der italienischsprachigen Schweiz. Ich fühle mich sehr geehrt, hier sein zu dürfen, und ich werde mich bemühen, alle diese Teile der Schweiz zu berücksichtigen, sollte ich gewählt werden.

Sie sehen sich also auch als Vertreter der Rumantschia?

Ich gehöre seit 56 Jahren einer Minderheit an. Ich weiss, worum es geht. Jede Minderheit hat eine noch kleinere Minderheit. Die Rumantschia leidet darunter, dass sie vergessen geht, wenn der italienischsprachige Teil der Schweiz um seine Minderheiten kämpft. Das darf nicht sein. Auch die Rumantschia soll als vollständiger Bestandteil der Schweiz betrachtet werden. Zum Scherz sage ich oft, dass die Rätoromanen die einzigen richtigen Schweizer sind, denn es gibt sie nur hier. Ich werde mich jedenfalls bemühen, das nicht aus den Augen zu verlieren.

Weshalb wären Sie ein guter Vertreter der Bündner Südtäler?

Weil wir mit den italienischsprachigen Bündnerinnen und Bündnern die gleiche Kultur teilen. Eine Sprache ist nicht nur eine Aneinanderreihung von Worten. Eine Sprache ist Vehikel von Mentalitäten, Kulturen, von Humor. Da haben wir ganz viele gemeinsame Werte, Gefühle, Emotionen, die anders sind als bei Deutschschweizerinnen und -schweizer. Gerade beim Humor zeigen sich die Unterschiede oft. Es gibt in der italienischsprachigen Schweiz Witze, die werden in der Deutschschweiz überhaupt nicht verstanden oder als lustig empfunden – und umgekehrt.

Die Kultur-und Sprachzugehörigkeit ist das eine, aber wirtschaftlich etwa haben die vier Bündner Südtäler wenig miteinander zu tun. Wo sehen Sie Verbindungen mit dem Tessin?

Vertretung muss nicht primär wirtschaftlich sein. Es geht nicht unbedingt darum, für mehr Arbeitsplätze zu sorgen. Es geht vielmehr um eine symbolische und psychologische Vertretung, um die Verwurzelung dieser Leute in der Schweiz, die stolz sein dürfen, mit ihrer italienischen Sprache Schweizer Bürgerinnen und Bürger zu sein. Diese symbolische Ebene wird oftmals unterschätzt.

Die FDP Tessin hat Sie für die Burkhalter-Nachfolge als einziger Kandidat nominiert. Nun war in der Sonntagspresse zu vernehmen, dass die Tessiner Grünen über eine wilde Kandidatur diskutieren. Die Partei rief dazu auf, zumindest im ersten Wahlgang die frühere Tessiner Staatsrätin Laura Sadis von der FDP zu unterstützen. Weshalb steht das Tessin nicht einhellig hinter Ihrer Kandidatur?

Also zunächst habe ich nicht die geringste Ahnung, ob das, was in den Medien steht, der Wahrheit entspricht (schmunzelt). In Bern zirkuliert die Devise, dass nie so viel gelogen wird wie an einer Bundesratswahl. Die Tatsache, dass die Medien das Gehörte wiedergeben, heisst nicht, dass die- oder derjenige das tatsächlich auch gesagt hat. Nun, der Präsident der FDP Tessin hat heute in Chur erklärt, warum der Kanton Tessin einen und nicht mehrere Kandidaten gewählt hat. Die FDP Schweiz hat auf mehrere Kandidaturen aus der lateinischen Schweiz gehofft. Hätten die welschen Kantone auf einen Sitz verzichtet zugunsten der italienischen Schweiz, dann hätte das Tessin selbstverständlich  mehrere Kandidaten portiert.

In weniger als vier Wochen, am 20. September, findet die Wahl statt. Pro Grigioni Italiano sprach letzte Woche im «Bündner Tagblatt» von einem Affront, sollte die italienischsprachige Schweiz in der Landesregierung weiterhin nicht vertreten sein. Wie sehen Sie das?



Es wäre sicher nicht einfach, diese Kröte zu schlucken. Es hiesse dann vorwärtszuschauen auf die nächste Gelegenheit. Die Welt dreht sich trotzdem weiter.

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Ignazio Cassis

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