Vai al contenuto principale Vai alla ricerca

Der Amtsarzt

27.08.2017

Sonntagsblick 27.8.2017

 

Frank A. Meyer 

Bundesrat werden ist nun mal eine heikle Angelegenheit. Ignazio Cassis, aussichtsreicher Anwärter, verzichtete dafür sogar auf seinen italienischen Pass. Der Tessiner, seit 1976 eingebürgert, ist jetzt ein unbezweifelbarer Schweizer.

Das ist also noch mal gut ­gegangen in dem Land, das ­seinen Bürgern zuhauf patriotische und politische Bekenntnisse abfordert, beispielsweise, dass man die Berge liebt und Brüssel hasst.

Wer ist Ignazio Cassis? Die «Neue Zürcher Zeitung» behauptet, er sei «ein knallharter Softie». Die dünne NZZ-Pointe hilft allerdings nicht weiter. «Knallhart» klingt zwar freisinnig, «Softie» dagegen wie ein Begriff, der im Zusammenhang mit Freisinn niemandem einfällt, der noch ganz bei Trost ist.

In der kältesten Partei der Schweiz machen kalte Kräfte Karriere. Zum Beispiel die FDP-Präsidentin Petra Gössi, die AHV-Bezüger jüngst verhöhnte: Diese liessen sich mit der Staatsrente ihren Lebensabend vergolden. Ja, die Schwyzerin weiss, was freisinnige Töne sind. Ignazio Cassis muss es noch lernen.

Der Arzt ist nämlich ein warmherziger Mensch, was auf seine italienische Abkunft zurückgeführt werden könnte – und mit dem Pass ja nicht verschwindet. Auch hat der Tessiner Nationalrat und FDP-Fraktionspräsident eine Karriere hinter sich, die man als Lebenslauf bezeichnen darf. Die Ausbildung zum Arzt ergänzte er durch ein Studium der Gesundheitswissenschaften. Das weitet den Blick übers Krankenzimmer hinaus in die Gesellschaft, wo Krankheit und Hinfälligkeit, körperliche und seelische Not nicht einfach nur individuelle, sondern soziale Probleme sind.

Auch deshalb wurde Ignazio Cassis ­Tessiner Amtsarzt – ein den öffentlichen Interessen verpflichteter Chefbeamter. Diese Funktion sprengt den weissen ­Kittel, der Ärzte allzu oft einengt auf ein Berufsbewusstsein, wonach man alles besser weiss, walte man doch täglich als Herr über Leben und Tod.

Ignazio Cassis ist ein neugieriger Mensch, ein Leser, wie eine Freundin zu erzählen weiss, ein Filmliebhaber auch, ein gebildeter Zeitgenosse, ein nachdenklicher Politiker, ausgestattet mit Lust an der Debatte und dem Talent dazu – fast möchte man sagen: ein Intellek­tueller.

Doch diese Feststellung verkneift man sich besser. Sie könnte dem Kandidaten in seiner Partei schaden. Wobei man beim Bundeshaus-Freisinn den Begriff «Intellektueller» wohl erst im Duden nachschlagen muss.

Wahrscheinlich weiss Ignazio Cassis um die Schwächen seiner Kandidatur: seine soziale Sensibilität, sein Engagement für das öffentliche Wohl, seine kulturelle Neugier. Jedenfalls gibt es Anzeichen dafür, dass er diese dem Freisinn einigermassen fremden Qualitäten mit «knallharten» FDP-Formulierungen kompensieren möchte. Zum Beispiel mit folgenden:

«Wir brauchen doch keinen Dauerschutz, als ob wir ein Leben lang Teenager blieben. Scheitern gehört zu unserem Dasein.»

Zwar pflegen Ärzte ihre Pa­tienten in der 1. Person Plural anzusprechen: «So, Herr Meyer, wie geht es uns heute?» Oder: «Wir nehmen unsere Medikamente doch sicher brav jeden Abend vor dem Schlafengehen?»

Doch damit ist Cassis’ Satz vom «Dauerschutz», den «wir» nicht brauchen, weil «wir» keine Teenager seien, nicht zu erklären. Ebenso wenig die philosophische Plattitüde vom «Scheitern», das zu «unserem Dasein» zähle.

Da redet nicht der Doktor am Krankenbett, sondern eine überaus differenzierte politische Persönlichkeit, die programmatische Parteiparolen zu simulieren versucht. Die aber klingen aus Ignazio ­Cassis’ Mund befremdlich, weil ähnlich herablassend wie Gössis Häme über die AHV-Rentner.

Nein, die Führungselite des Freisinns samt ihrer Klientel hat keinen «Dauerschutz» nötig. In diesen wohlbestallten Kreisen scheitert man auch nur ganz selten.

Ignazio Cassis weiss, der Sozialstaat ist für die vielen andern da: für die Bürgerinnen und Bürger, die durch Krankheit oder Arbeitslosigkeit ökonomisch-­existenziell getroffen sind, die deshalb tatsächlich des «Dauerschutzes» bedürfen, weil nur so gewährleistet werden kann, dass sie ihr Leben als selbst­bewusste ­Citoyenne, als stolzer Citoyen angstfrei leben können.

Denn allein der sozial sichere Bürger ist ein freier Bürger!

Deshalb ist der Sozialstaat – und Ignazio Cassis weiss auch dies – die bedeu­tendste zivilisatorische Leistung der Menschheit: Er garantiert Gleichheit und Freiheit und Demokratie.

All das ist Ignazio Cassis vertraut, im ­Gegensatz zu seiner Partei. Weil er weiss, dass Liberalismus – Freisinn im frei­sinnigen Sinn – eine Kultur des gesellschaftlichen Ganzen meint.

Er war Amtsarzt.

Autori

Ignazio Cassis

Ignazio Cassis