Vai al contenuto principale Vai alla ricerca

Italienischbünden setzt auf Cassis

28.08.2017

NZZ Online, 28.8.2017, 11:10 Uhr

von Peter Jankovsky

Italienischbünden unterstützt Bundesratskandidat Ignazio Cassis – trotz Vorbehalten gegenüber dem Tessin. Die vierte Minderheit der Schweiz hofft, im Fall einer Wahl des Tessiners mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.

Auf seiner Tour durch die Schweiz machte Bundesratskandidat Ignazio Cassis auf Einladung der Italienischbündner in Chur halt.

«Il Grigioni italiano»: So heisst Italienischbünden in Dantes Sprache, wobei grammatische Mehr- und Einzahl auf einzigartige Weise zusammenkommen. «Brüderchen des Tessins» oder «Minderheit in der Minderheit» lauten andere Bezeichnungen für die vier italienischsprachigen Bündner Täler Poschiavo (Puschlav), Bregaglia (Bergell), Mesolcina (Misox) und Calanca. Diese geografisch zersplitterte Minderheit wird landesweit kaum wahrgenommen. Denn auf Platz eins rangieren die Romands, dann folgen de facto die Tessiner und die Rätoromanen – daher kann man die Italienischbündner, ungefähr 13'000 in besagten Tälern und 25'000 in ganz Graubünden, als vierte Minderheit in der Schweiz bezeichnen.

Im eigenen Kanton äussert sich das Problem darin, dass einige öffentliche Einrichtungen sich die kantonale Verwaltung nicht zum Vorbild nehmen und keine dreisprachigen Informationen anbieten. Generell sehen sich die Italienischbündner von höheren Kaderstellen in Graubünden fast gänzlich ausgeschlossen – von der Kantonsregierung ganz zu schweigen. Immerhin haben sie mit der Puschlaver SP-Nationalrätin Silva Semadeni eine Vertreterin in Bundesbern. Jahrzehnte zuvor war es der Misoxer CVP-Nationalrat Ettore Tenchio, der als erster Italienischbündner ins Parlament einzog. Er wäre in den 1960er Jahren sogar fast Bundesrat geworden.

Die Italienischbündner haben gemischte Gefühle für das Tessin

Nun setzt die Interessenvereinigung Pro Grigioni italiano (PGI) auf den Bundesratskandidaten Ignazio Cassis. Sie hat den Tessiner FDP-Mann am Sonntag nach Chur zu einem Publikumsgespräch eingeladen und ihm ihre Unterstützung zugesichert. Als Bundesrat würde Cassis die Aufmerksamkeit für die italienische Schweiz und damit auch für Italienischbünden deutlich steigern, erklärte auf Anfrage Manuel Atanes, Präsident der Italienischbündner Interessengruppe im Kantonsparlament. Dank Cassis könnte die italienische Schweiz endlich angemessen vertreten sein, was auch positive Auswirkungen innerhalb Graubündens hätte, urteilte der SP-Grossrat, der Cassis dem Publikum präsentierte.

Das Verhältnis der Italienischbündner zum grossen Bruder Tessin ist allerdings zwiespältig. Zu oft fühlt man sich von ihm ignoriert oder als eine Art Tessiner bezeichnet. Doch jetzt schiebt die Pro Grigioni italiano ihre Zweifel zur Seite und unterstützt Cassis, weil sich eine seltene Chance bietet. Dies sei zwar in erster Linie ein pragmatischer Entscheid. Einige italienischsprachige Bündner Täler, vor allem das Misox, fühlten sich aber auch dem Tessin verbunden und profitierten von dessen Infrastrukturen, betonte Atanes, der selber im Misox lebt. Laut seinen Worten traut die Mehrheit der Italienischbündner Ignazio Cassis zu, auch sie repräsentieren zu können. Denn als Co-Präsident der parlamentarischen Gruppierungen «Italianità» und «Mehrsprachige Schweiz» habe der Tessiner Nationalrat sein Gespür und Engagement für ein gesamtschweizerisches Italienischtum bewiesen.

Cassis selbst gab unumwunden zu, dass die Tessiner oft denselben Fehler begingen wie die Romands: Man vergesse bei der Selbstbehauptung gegenüber der Mehrheit, dass es noch eine kleinere Minderheit gebe. Die Tessiner müssten also darauf achten, mit Italienischbünden nicht so umzugehen wie die Romands mit der italienischen Schweiz. Der Bundesratskandidat sagt, er habe sich während seines Medizinstudiums, als er noch nicht so gut Deutsch sprach wie jetzt, in der Deutschschweiz manchmal auch als Fremder im eigenen Land gefühlt. Aber er denke eidgenössisch, so dass er zwar als Tessiner beispielsweise nicht die Ostschweiz, doch sehr wohl die mehrsprachige Schweiz repräsentieren könne – mit besonderer Sensibilität für den italienischsprachigen Teil.

Kaderleute sollen Cassis ins Bundeshaus folgen

Als Bundesrat würde Cassis nach eigener Aussage dafür sorgen, dass die Eidgenossenschaft gemäss dem Sprachengesetz weiterhin genügend Geld zur Pflege der Italianità fliessen lässt. Und weil er als italienischsprachiger Bundesrat medial stark präsent wäre, würde Dantes Sprache endlich wieder als nationale Sprache wahrgenommen. Das sei letztmals während Flavio Cottis Zeit in der Landesregierung der Fall gewesen. Ein Bundesrat italienischer Muttersprache könnte schliesslich auch mehr Tessiner und Italienischbündner dazu motivieren, sich beim Bund zu bewerben, insbesondere um Kaderstellen. Als Magistrat würde sich Cassis um eine genügend grosse Auswahl an italienischsprachigen Kandidaten bemühen.

Auf die unterschiedliche Praxis der Kantone in punkto Fremdsprachenunterricht und die Verdrängung des Italienischen angesprochen, reagierte Cassis zurückhaltend. Der Bund müsse eine ausgleichende Rolle spielen und den Kantonsparlamenten vernünftige Lösungsansätze vorschlagen. Cassis weiss um die Brisanz dieses Themas nicht nur wegen des Französischunterrichts im Thurgau: In Graubünden, dem einzigen dreisprachigen Kanton, wird wohl nächstes Jahr eine vom Bundesgericht gutgeheissene Deutschbündner Initiative zur Abstimmung gelangen, welche in der Primarschule die Beschränkung auf eine Fremdsprache fordert.

Cassis sagt, er wolle die Beziehungen zu Italien verbessern

Im Übrigen möchte der Tessiner Cassis, der seine zweite Staatsbürgerschaft – die italienische – angesichts seiner Bundesratskandidatur abgelegt hat, die Beziehungen zu Italien verbessern. Denn dies habe der jetzige Bundesrat kaum geschafft, zumal die Verhandlungen zwischen Rom und Bern über Steuerfragen, Grenzgängerbesteuerung und Flüchtlingsfragen auf Englisch geführt worden seien. Ein symbolisches Problem, das man nicht unterschätzen dürfe, so Cassis.



Das Italienischbündner Publikum in Chur diskutierte sachlich mit Cassis, emotional wurde es kaum. Eine Nachfrage bei zwei Zuhörern ergab ein positives Urteil: Das Ehepaar Cristina und Giancarlo Sala aus Poschiavo weiss zwar, dass auch ein italienischsprachiger Bundesrat vor allem den Landesinteressen dienen müsse, doch Cassis werde sicher für die Schweizer Italianità kämpfen. Die beiden glauben auch, dass beispielsweise die Mehrheit der Puschlaver Bevölkerung für den Tessiner ist. «Wir als Italienischbündner spüren die Solidarität von Cassis.»

Autori

Ignazio Cassis

Ignazio Cassis