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Auf der Zielgeraden

08.09.2017

Schweizer Illustrierte, 8.9.2017

Fit für den Bundesrat! Der Tessiner FDP-Nationalrat IGNAZIO CASSIS will für den Südkanton in die Landesregierung. Warum sich seine Mamma Sorgen macht, was ihn auf die Palme bringt und weshalb er seine liberale Haltung zu Drogen nicht als Hindernis sieht.

TEXT JESSICA PFISTER, FOTOS KURT REICHENBACH

Das Rezept von Ignazio Cassis gegen Nervosität? Joggen! «Danach schlafe wie ein Stein – auch als Bundesratskandidat», sagt der Tessiner FDP-Politiker, bei einem Glas Orangensaft in der Brasserie 11 im Berner Monbijouquartier.

Ganz in der Nähe hat er eine kleine Altbauwohnung gemietet. Sein Schlafplatz unter der Woche und der Start für die abendliche 25-minütige Joggingrunde der nahen Aare entlang.

Die Wochenenden gehören seiner Frau Paola, 54. Im gemeinsamen Haus in Montagnola bei Lugano entspannen sie sich beim Pflanzen von Tomaten im eigenen Garten. «Am Wahltag wird Paola bei mir in Bern sein. Sie ist meine colonna - meine Säule, sie gibt mir Kraft!»

In weniger als zwei Wochen ist es soweit. «Andere wollen den Mount Everest besteigen, ich will lieber in den Bundesrat», sagt Cassis zu seiner Motivation, in die Fussstapfen von Didier Burkhalter zu treten. Ihn reize die Herausforderung und er habe einfach Lust auf das Amt. «Zudem verfüge ich über die nötige Reife.»

Weniger begeistert über seine Kandidatur ist Cassis 83-jährige Mutter Mariarosa. «Willst du es dir wirklich antun? », habe die strenggläubige Katholikin gesagt. Als einziger Junge neben drei Schwestern ist Ignazio ihr Liebling. Zwei bis drei Mal pro Woche telefoniert er mit «la mamma». Am Sonntagmittag besucht er sie jeweils im 700-Seelendorf Sessa zum Mittagessen. «Sie ist besorgt, dass ich als Bundesrat nicht mehr so happy wäre.»

Cassis ist eine Frohnatur. Sieht man ihn in der Wandelhalle grüsst er mit einem Lächeln im Gesicht, verschickt er eine SMS, dann gerne mit sonnigen Grüssen und einem Sünneli-Symbol. Kein Wunder also, dass SVP-Fraktionschef Adrian Amstutz sagt: «Mit Cassis könnte man morgen die Ferien fahren.»

Doch es gibt durchaus Dinge, die den Tessiner auf die Palme treiben: «Mangelnder Respekt gegenüber Schwachen. Da kann ich auch mal laut werden.» Diese Haltung sei ihm von seinen Eltern mitgegeben worden. Seine Mutter hat Kinderlähmung, braucht eine Gehhilfe. «Deshalb wird sie an den Bundesratswahlen auch nicht dabei sein. Dafür kommen meine drei Schwestern nach Bern!»

Cassis Vater Gino lebt nicht mehr. Durch den Landwirt und späteren Versicherungsvertreter erbte Cassis die Italienische Staatsbürgerschaft. Dass er den italienischen Pass just nach seiner Nomination als Bundesratskandidat abgegeben hat, sorgte für Kritik. Er biedere sich bei der SVP an, wetterte SP-Nationalrat Cédric Wermuth. «Stimmt nicht», sagt Cassis. Da der gesamte Bundesrat für die Aussenpolitik zuständig ist, ist es für ihn richtig, dass diese höchsten Botschafter der Schweiz im Ausland, keine andere Staatsbürgerschaft haben. «In meiner Vision der Schweiz, soll ein Bundesrat nur den Schweizer Pass haben.»

Wenn Cassis eine klare Haltung hat, zieht er sie durch. Das zeigt der ehemalige Tessiner Kantonsarzt bei der Drogenpolitik. Im ersten Jahr als Nationalrat 2007 weibelte er für ein Ja zur Hanfinitiative, gab offen zu: «Ich habe schon gekifft.» Diese Woche spricht er sich in der «Aargauer Zeitung» für eine Legalisierung aller Drogen, inkl. Kokain aus. «Ich bin weder für eine Kiosklösung noch für eine unwirksame Prohibition, sondern für einen geregelten Marktpräzisiert er gegenüber der Schweizer Illustrierten. Der Zugang zu den Drogen soll beispielsweise für Minderjährige wirksam verboten sein und für Erwachsene wie bei den Medikamenten reguliert. 

Für seine Frau Paola sind manche Schlagzeilen um ihren Mann schwieriger zu ertragen.– vor allem wenn es um Privates gehe. «Wenn sich plötzlich die ganze Schweiz über unser Blümchensofa lustig macht, trifft sie das», sagt Cassis. Aber er wisse von anderen Bundesräten, dass es für deren Partner oft nicht leicht sei. «Ich bin deshalb sehr froh, dass Paola hinter meiner Kandidatur steht.»

Mit der Radiologin aus dem Sopraceneri ist Cassis seit 21 Jahren verheiratet. «Eine Nordtessinerin und ein Südtessiner - das ist fast so schwierig wie bei Romeo und Julia», witzelte Cassis beim Besuch der Schweizer Ilustrierten in Montagnola im Mai. Kinder haben die beiden keine - «es wollte einfach nicht klappen.» Dafür erkunden sie heute wenn immer möglich die Welt– wie zuletzt in Bangladesh. Als Aussenminister wäre Cassis auch beruflich viel unterwegs. «Wir müssten uns neu organisieren.» Klar ist: Aus dem Tessin zieht Cassis nicht weg. Und das sagt er nicht nur, um seine Favoritenrolle als Südschweizer nicht zu gefährden. «Meine Herkunft hat mich geprägt.» Als Medizinstudent in Zürich habe er erlebt, wie Tessiner ausgelacht wurden. «Mit meinem italienischen Akzent wurde ich Anfangs als fremder Fötzel behandelt.» Statt aufzugeben, entwickelte Cassis – Major im Militär – eine «Überlebensstrategie.» «Ich ging in die Charmeoffensive.» Etwa indem er die Zürcher Studentinnen mit Risotto bekochte.



Für Cassis ist klar: «Unsere Kultur, unser Humor, unsere Lebenseinstellung muss in der Landesregierung vertreten sein!» Die Chancen, dass es am 20. September für den Südkanton klappt, stehen so gut wie schon lange nicht mehr. Für Cassis hiesse das vor allem: Viel Arbeit. «Aufs Joggen verzichte ich aber nicht – den tiefen Schlaf brauche ich dann umso mehr!».

Autori

Ignazio Cassis

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