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Vergessen Sie das Protokoll!

28.09.2017

Die Zeit, 28.9 2017

Sehr geehrter Herr Bundesrat Cassis,

am 1. November treten Sie Ihr Amt an. Und es wird zwei Themen geben, bei denen Sie als Außenminister nicht groß auf die Erfahrungen ihrer Vorgänger zurückgreifen können. Es sind die wichtigsten Themen unserer Zeit: der Klimawandel und die Digitalisierung. Sie haben das Potenzial, unsere Welt für immer zu verändern. Der Klimawandel bedroht die natürlichen Grundlagen unseres Lebens.

Schon jetzt ist er weltweit der wichtigste Migrationsgrund, und auch wir in der Schweiz nehmen ihn hautnah wahr: Unsere Berge bröckeln, unsere Gletscher schmelzen. Nur ein globales, kooperatives Vorgehen kann uns vor weiteren Katastrophen bewahren. Die Auswirkungen der Digitalisierung hingegen sind nicht nur negativ. Nie in der Geschichte der Menschheit lag so viel Information offen, gab es so viele Möglichkeiten zur Zusammenarbeit. Aber die Missbrauchsgefahr ist hoch. Wenn Hacker Zugriff auf unsere Daten und auf unsere Infrastruktur erhalten, können sie uns manipulieren. Und das ist gefährlich. Die Einmischung Russlands in den amerikanischen Wahlkampf ist knapp elf Monate nach der Wahl noch immer nicht geklärt. Diese Ungewissheit lähmt die Demokratie und verschärft die Vertrauenskrise in das politische System – nicht nur in Amerika.

Herr Bundesrat Cassis, der Klimawandel und die Digitalisierung verlangen nach einer neuen Außenpolitik – auch in der Schweiz. Es gibt bei diesen Themen kein »Außen« und kein »Innen« mehr, sie sind immer im wahrsten Sinn des Wortes global. Für Sie als zuständigen Außenminister heißt das: Denken Sie Ihr Amt radikal neu.

Vergessen Sie das diplomatische Protokoll, vergessen Sie die Hierarchien, vergessen Sie die Fünfsternehotels. Sie müssen Programmiersprachen verstehen, Sie müssen internationale Hackathons zum Klimawandel veranstalten. Sie müssen Chief Innovation Officer werden! Dazu müssen Sie nicht nur den »Reset«-Knopf in der Europapolitik drücken, sondern das gesamte Außendepartement (EDA) neu organisieren. Hier unsere fünf Vorschläge, wie das funktionieren könnte:

1. Setzen Sie auf eine agile Verwaltung: Agil, das Modewort aus der IT-Industrie, verweist auf ein wertvolles Prinzip. Probieren Sie Neues aus. Testen Sie neue Konzepte. Messen Sie, und sammeln Sie strukturiert Feedback und Daten. Werten Sie diese aus, und dann passen Sie Ihre Arbeit an. Aus der Gesundheitspolitik und der Medizin sollte Ihnen das Prinzip vertraut sein: test, learn, adapt. Noch nie gab es so viele Möglichkeiten, politische Ideen anhand von Daten auszuprobieren. Kreieren Sie dazu eine »Squadra Speciale per l’Innovazione« in Ihrem Departement. Nehmen Sie sich dazu das Behavioural Insights Team aus dem Vereinigten Königreich, das MindLab aus Dänemark oder das GovLab aus den USA zum Vorbild. Sie werden erfreut sein!

2. Generieren Sie Wissen: Wissen bedeutet Macht, und die Weisheit der vielen schlägt das Nachdenken des Einzelnen im stillen Kämmerlein. Die Grundlage für dieses Wissen sind Daten, und das EDA verfügt über eine gigantische Menge an Informationen, die es allein unmöglich verarbeiten kann. Nur wenn Sie die Crowd, die Masse, einbeziehen, werden Sie diese nutzen können. Deshalb sollten Sie eine Open-government-Data-Strategie für das EDA erarbeiten und so viele Informationen wie möglich öffentlich zugänglich machen. Wenn zum Beispiel viele Menschen Klimadaten nutzen dürfen, können sie damit Veränderungen analysieren, Prognosen erstellen und uns allen damit helfen, dem Klimawandel mit klugen Lösungen zu begegnen. Während die USA androhen, ihre Klimadaten zu vernichten, könnte die Schweiz zu einem Hub für offene Daten und eine offene Wissenschaft werden.

3. Suchen Sie Verbündete: Schaffen Sie ein Ökosystem. Die klassische Außenpolitik kannte das Primat der Nationalstaaten. Heute sind andere, neue Akteure ebenso wichtig. Tech-Giganten wie Google, Facebook und Amazon mischen genauso in der internationalen Politik mit wie Frankreich, Deutschland und China. Suchen Sie sich dort Verbündete, wo Potenzial zum Aufbruch besteht: Binden Sie die digitale Wirtschaft in Ihre Arbeit ein, organisieren Sie sich mit Start- ups, kooperieren Sie mit innovativen  Nichtregierungsorganisationen. Schaffen Sie eine »Alliance Suisse d’Economie Digitale et Internationale«, deren Vertreter als Milizdiplomaten für die Schweiz unterwegs sind. Die klassischen Industrieverbände haben ihre progressive DNA verloren. Economiesuisse tut sich schwer, klar für Europa einzustehen. Fintechs, Civictechs, Datenverarbeiter und die Kreativwirtschaft werden Sie jedoch unterstützen in Ihrem innenpolitisch drängendsten Dossier: der Europapolitik.

4. Reisen Sie durch das Land: Sie sind ein eloquenter und charismatischer Kommunikator. Sie beherrschen drei Landessprachen nahezu perfekt. Nutzen Sie diese Stärke, und sprechen Sie mit den Schweizern über internationale Themen. Besuchen Sie die Stammtische auf dem Land, die Mehrzweckhallen in den Agglomerationen, die Hipster-Cafés in den Städten. Nutzen Sie Ihre Social-Media-Accounts, besuchen Sie Turnvereine, KMUs und Kirchgemeinden. Sie sollten eine Tour de Suisse an die nächste reihen. Und denken Sie daran: Kommunikation bedeutet neben Reden auch Zuhören und Diskutieren. Ein schönes Beispiel dafür liefern die Open-Situation-Rooms, mit denen das Auswärtige Amt in Deutschland versucht, einen breiten Bürgerdiskurs zu führen, zu dokumentieren und zu verstehen. Die Außenpolitik von morgen ist die Debatte mit den Menschen von heute.

5. Zeigen Sie Haltung: Seien Sie politisch. Sie werden unsere Herausforderungen in Europa und der Welt nur dann angehen können, wenn Sie Ihre Haltung entschlossen verteidigen: Die Schweiz muss offen bleiben. Sonst verlieren wir unseren Wohlstand – und auch unsere Moral. Wenn Sie diese Offenheit vertreten, wird Ihnen in den Spunten dieser Nation ein rauer Wind entgegenwehen. Die Ungewissheit, die Veränderungen, die eine vernetzte Welt mit sich bringen, all dies macht Angst. Weite Teile der Bevölkerung lassen sich von der verführerischen Idee der Festung Schweiz begeistern. Zugeständnisse an diese Angst nützen nichts, sie verstärken das schlechte Bauchgefühl nur. Antworten Sie, Herr Bundesrat, darauf mit Zuversicht und Mut, und zeigen Sie den Schweizerinnen und Schweizern, was ihre Chancen in einer globalisierten Welt sind. Stellen Sie sich also hin, vor die Bevölkerung, die Medien, das Parlament und Ihre Partei, und verkünden Sie, dass die Schweiz ihren Platz als Verfechterin der Demokratie verliert, wenn grundlegende Menschenrechte infrage gestellt werden, dass die Schweiz ihren Wohlstand dem Handel und dem Austausch verdankt und dass unser kleines Land in dieser Welt des 21. Jahrhunderts nur als Willensnation und nicht als Festung bestehen kann.

Sehr geehrter Herr Bundesrat, wir freuen uns schon jetzt, von Ihnen zu hören, und wünschen Ihnen viel Glück in Ihrem neuen Amt mit all seinen Herausforderungen. Auf uns und unsere Mithilfe können Sie zählen.

Mit freundlichen Grüßen



Florian Egli und Maximilian Stern, Vize-Präsident und Mitgründer Thinktank foraus

Autori

Ignazio Cassis

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