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Der Bundesratskandidat

29.03.2017

von Christof Forster, NZZ 29.3.2017


FDP-Fraktionspräsident Ignazio Cassis gilt als valabler Nachfolger für Didier Burkhalter. Doch jetzt steht der Tessiner Nationalrat plötzlich im Gegenwind.

Die Stimmung im Bundeshaus ist explosiv während der letzten Woche der Frühlingssession, kurz vor der entscheidenden Abstimmung über die Rentenreform, eines der wichtigsten Geschäfte der Legislatur. In der Wandelhalle steuert SP-Präsident Christian Levrat auf Ignazio Cassis zu. Dieser ist als Präsident der FDP-Fraktion und gleichzeitig der Sozial- und Gesundheitskommission des Nationalrats ein wichtiger Akteur. Levrat droht dem verdutzten Cassis mit schweren personellen Konsequenzen, sollte die FDP-Fraktion die Altersreform zum strategischen Geschäft erklären. Damit will die FDP sicherstellen, dass bei zentralen Anliegen die Fraktion geschlossen stimmt. Levrat, der Konflikte nicht scheut, zielte mit seiner Bemerkung auf den Support der SP, sollte Cassis dereinst für den Bundesrat kandidieren. «Das ist eine Schweinerei», sagte der aufgebrachte Tessiner der «Aargauer Zeitung». In seinen zehn Jahren im Nationalrat sei dies die erste persönliche Drohung gegen ihn gewesen, ergänzte er gegenüber der NZZ.

Cassis' verschiedene Hüte

Er habe eine miserable Leistung als Kommissionspräsident und Fraktionschef abgeliefert, gab der SP-Präsident zu Protokoll. Neu ist die Kritik an Cassis' verschiedenen Rollen nicht, bei der Rentenreform wurden die Spannungen aber gut sichtbar. Die Linke erwartete von ihm, dass er sich als Kommissionspräsident stärker für einen Kompromiss zwischen den beiden Kammern einsetze. Doch auch Konrad Graber, der Präsident der ständerätlichen Schwesterkommission, zeigt sich beim Kern der Vorlage, dem umstrittenen AHV-Zuschlag von 70 Franken, nicht kompromissbereit. Im Gegensatz zu Graber war jedoch Cassis' Spielraum kleiner, da er gleichzeitig eine Fraktion vertrat, die den AHV-Zuschlag klar ablehnte. Laut Vertretern von SP und CVP gibt es einen weiteren Grund, wieso der sonst aufgrund seiner umgänglichen Art von links bis rechts geschätzte Tessiner Sympathien verloren hat. Cassis half mit, die Rentenreform für die Versicherer bewusst zu verschlechtern – im Widerspruch zu seiner liberalen Grundhaltung. Ziel ist es gewesen, den Versicherungsverband zum Gegner der Vorlage zu machen.

Dies seien nur Vorwände, um ihn anzugreifen, sagt Cassis. Im Bundeshaus hätten viele Politiker mehrere Hüte auf. In der Rentenreform hat beispielsweise Gewerkschaftsbundpräsident und SP-Ständerat Paul Rechsteiner eine zentrale Rolle gespielt.

Cassis' dritter Hut sind seine Verbandsmandate: Er präsidiert den Krankenkassenverband Curafutura, der rund die Hälfte der Versicherer vertritt, sowie den Heimverband Curaviva. Von Curafutura wird Cassis mit 180 000 Franken pro Jahr entlöhnt – laut Branchenkennern ein fürstliches Entgelt für ein Teilzeitmandat. Die FDP-Parlamentarier sahen in den möglichen Interessenkonflikten, die Cassis transparent gemacht hatte, kein Hindernis für seine Wahl zum Fraktionspräsidenten 2015. Den Verbänden habe er gesagt, er sei im Parlament ein Lobbyist für FDP-Werte.

Wieso macht er dies überhaupt? «Ich möchte auch ausserhalb der Politik existieren», sagt der bald 56-Jährige. Deshalb sei sein Leben halb Politik und halb Beruf. Neben der Verbandsführung hat er Lehraufträge an diversen Universitäten in Gesundheitsökonomie und öffentlicher Gesundheit. Unabhängig von seiner politischen Tätigkeit sind seine Verbandsmandate natürlich nicht. Wertvoll ist er für diese nicht zuletzt dank seinem Netzwerk und dem Zugang zu Informationen. Cassis aber betont, die Verbände würden ihn auch nach dem Ende seiner politischen Karriere weiterbeschäftigen.

Er versuche, sein Leben in Varianten zu denken und die Risiken zu minimieren, sagt Cassis. Die Fast-Abwahl seines Tessiner Kollegen, des damaligen FDP-Präsidenten Fulvio Pelli, hat ihm zu denken gegeben. Je länger Tessiner Politiker in Bern seien, desto schwieriger werde die Wiederwahl. Im Tessin wird Cassis zuweilen dafür kritisiert, dass er zu wenig präsent sei. An drei Tagen der Woche ist er in Bern, zudem hat er kein Amt im Südkanton wie andere Tessiner Politiker im Bundeshaus. «Aber», und jetzt kommt der zurückhaltende Cassis in Fahrt, «die Tessiner müssen schon wissen, was sie wollen.» Lega-Nationalrat Lorenzo Quadri sei zwar der am besten gewählte Politiker und sichtbar im Kanton, sein Einfluss im Parlament aber vernachlässigbar. Geschadet habe ihm im Tessin auch, dass er zu den in der öffentlichen Wahrnehmung «bösen» Krankenkassen gewechselt habe, sagt Cassis.

Mechaniker im Maschinenraum

Breiter bekannt im Tessin wurde der Absolvent eines Medizinstudiums als Kantonsarzt. Er verstand sich als Dolmetscher zwischen Politik und Medizin, zuständig für die Umsetzung der Normen. Mit der Zeit sah er, dass sich gewisse Vorgaben der Politik nicht bewährten. So sei der Drang entstanden, selber zu gestalten. Das Angebot, als Arzt die FDP-Liste für die Nationalratswahlen zu vervollständigen, ist dann laut Cassis überraschend gekommen. Ebenso überraschend landete er auf dem ersten Ersatzplatz und konnte 2007 in die grosse Kammer nachrutschen.

Die FDP-Fraktion schätzt ihren Präsidenten. Zu Beginn waren einige unzufrieden mit der weniger straffen Führung der Sitzungen als bei Vorgängerin Gabi Huber. Doch Cassis hat schnell gelernt. «Er wirkt integrativ und ist aufrichtig und gradlinig», sagt der Zürcher Nationalrat Hans-Peter Portmann. «Er ist Präsident der Fraktion und nicht Chef», findet sein Waadtländer Kollege Olivier Feller. Er versuche zu überzeugen. Cassis sei nicht wie Huber ein Urner Granit, sagt der Zuger Ständerat Joachim Eder. Cassis sei zwar sehr glaubwürdig, manchmal wünscht sich Eder aber eine härtere Hand. Viele beschreiben Cassis als harmoniebedürftig. Trotzdem hat er es geschafft, die Fraktion in wichtigen Geschäften wie der Rentenreform auf eine Linie zu bringen. Cassis selbst sieht sich als Mechaniker im Maschinenraum, der schaut, dass die Truppe zusammenbleibt. Er ist nicht einer, der die Richtung vorgibt, sondern lässt den Dossier-Verantwortlichen viel Spielraum.

Früher politisierte Cassis am linken Flügel der FDP, mit ähnlichen sozialen Sensibilitäten wie der frühere Ständerat und Präventivmediziner Felix Gutzwiller, bei dem Cassis studiert hatte. Inzwischen hat er sich in die Mitte bewegt.

In seiner raren Freizeit hört der frühere Trompetenspieler Jazz aus den 1940er und 1950er Jahren, oder er joggt der Aare entlang – am liebsten in der Nacht und bei Regen. Diese Stille habe etwas Mystisches. Er ist kinderlos verheiratet mit einer Ärztin.

Aussprache mit Levrat

Cassis politisiert vorsichtig. Hat er Angst, Fehler zu machen? Manchmal sei diese Angst da, impulsiv etwas zu sagen oder zu tun, das einem den Weg versperren könnte. Den Weg in den Bundesrat? Er schliesse eine Kandidatur nicht aus, sagt Cassis nur. Wenn FDP-Bundesrat Didier Burkhalter dereinst zurücktritt, ist die Konstellation günstig für das Tessin, erstmals nach 1999 wieder einen Magistraten zu stellen. Denn die Romandie wäre mit Alain Berset und Guy Parmelin immer noch angemessen vertreten. Ob Levrat dann noch aktiv sein und seine Drohung umsetzen wird, bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall haben sich die beiden nach der Session in einem Restaurant ausgesprochen.

 



 



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