Vai al contenuto principale Vai alla ricerca

Man könnte meinen, Kassen seien Terrorgruppen

12.07.2017

Mit Ignazio Cassis sprach Iwan Städler – 12.7.2017 Tages-Anzeiger

Haben Sie die Bundesratssitzungen ab November eigentlich bereits in Ihren Terminkalender eingetragen?

Nein.

Sie glauben also nicht an Ihre Wahl, obwohl Sie als grosser Favorit gehandelt werden?

Doch, selbstverständlich ist es mein Ziel, gewählt zu werden. Aber ich weiss auch, dass der Weg dorthin nicht ganz einfach sein wird. Sollte ich gewählt werden, haben die Leute bestimmt Verständnis, wenn ich ein paar Termine absagen muss.

Freut es Sie, oder empfinden Sie es als Belastung, dass Sie mit Abstand der aussichtsreichste Kandidat sind?

Beides. Es freut mich natürlich, dass auch andere mich als Bundesrat sehen. Aber ich kenne den Spruch: Er ist als Papst in das Konklave gegangen und als Kardinal wieder herausgekommen. Und ich weiss: Wenn man bei Bundesratswahlen früh Favorit ist, ist dies eher eine Gefahr als eine Chance. Ich konnte freilich nichts dagegen tun. Seit dem Rücktritt von Didier Burkhalter habe ich bis jetzt konsequent geschwiegen.

Sie sind FDP-Fraktionschef und Tessiner. Eine Nichtwahl wäre bei dieser Ausgangslage eine Blamage.

Die Chancen für jemanden aus der italienischsprachigen Schweiz waren noch nie so gross in den letzten Jahren. Aber Bundesratswahlen sind immer auch taktische Wahlen. Es ist völlig normal, dass sich andere Parlamentarier überlegen, ob eine Wahl ihre eigenen Chancen schmälert oder erhöht, wenn sie Bundesratsambitionen haben.

Würde das Parlament einen Fehler machen, wenn es keinen Tessiner wählen würde?

Wir müssen dem nationalen Zusammenhalt Sorge tragen – unabhängig von meiner Person. Angesichts dessen wäre es sicher kein gutes Zeichen gegenüber der italienischsprachigen Schweiz.

Etliche Tessiner monieren aber, Sie seien öfter in Bern als im Tessin. Und die Krankenkassen seien Ihnen näher als Ihr Kanton. Haben sie recht?

Sie haben recht, dass ich öfter in Bern bin als im Tessin. Aber es sind ja die Tessiner, die mir den Auftrag gegeben haben, in Bern unsere Stimme hören zu lassen. Dadurch kann ich seltener in der Stammbeiz sein. Aus dem Tessin kann man nun einmal nicht täglich nach Bern pendeln, auch wenn die Fahrt dank dem Gotthard-Basistunnel kürzer geworden ist. Hin und zurück sind es immer noch sieben Stunden.

Inwiefern könnte das Tessin von einem Bundesrat Cassis profitieren?

Ich könnte die Wellenlänge der italienischsprachigen Schweiz im Bundesrat einbringen.

Inwiefern unterscheidet sich denn diese Wellenlänge von jener der Deutschschweiz und der Romandie?

Wir ticken anders, weil wir zu einer anderen Kultur gehören.

Zum Beispiel?

Die Angst, die Stelle an einen Ausländer zu verlieren, ist im Tessin deutlich höher. Wegen der vielen italienischen Grenzgänger denken die Tessiner protektionistischer. Sie haben denn auch wenig Verständnis dafür, dass das Staatssekretariat für Wirtschaft lange sagte, mit der Personenfreizügigkeit laufe alles gut.

Und was spricht nebst Ihrer Tessiner Herkunft für den Bundesratskandidaten Cassis?

Ich war ja bereits vor acht Jahren Bundesratskandidat . . .

. . . nicht  sehr  erfolgreich. Sie machten nur 12 von 246 Stimmen.

Ja. Damals war ich erst seit zwei Jahren im Nationalrat. Ausser dem Tessinersein sprach damals wenig für mich. Es ging einzig darum, die Fahne für die italienischsprachige Schweiz hochzuhalten. Ich habe es gemacht, weil die Tessiner dies unbedingt wollten. Mir fehlten aber zu viele Kompetenzen, es war zu wenig in meinem politischen Rucksack.

Und jetzt?

Inzwischen habe ich den Rucksack gefüllt. Nach zehn Jahren im Nationalrat habe ich einen politischen Leistungsausweis. Ich wurde bei meiner Partei Themenführer für Sozial- und Gesund- heitsfragen und habe vor zwei Jahren das Fraktionspräsidium übernommen. Darüber hinaus präsidiere ich die nationalrätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. So habe ich in den letzten Jahren enorm viel gelernt, wie die Schweizer Politik tickt. Ich kann Allianzen schmieden, aber auch eine harte Linie fahren, wenn Allianzen nicht möglich sind. Ich kenne die Mentalitäten dieses Landes, habe ich doch sieben Jahre in Zürich gelebt und vier Jahre in Lausanne. Und ich bin Tessiner.

Was reizt Sie denn so an diesem Job?

Genau diese Frage habe ich mir in den letzten vier Wochen gestellt. Man verliert ja als Bundesrat ein Stück weit sein Privatleben. Dafür hat man eine grössere  Gestaltungsmöglichkeit.

Das Privatleben leidet wohl schon jetzt. Sie sind ja nicht nur FDP-Fraktionschef, sondern auch Präsident diverser Organisationen – etwa des Krankenkassenverbands Curafutura und des Heimverbands Curaviva. Das beschert Ihnen laut eigenen Angaben bereits heute Arbeitswochen von 70 bis 80 Stunden.

Ja. Aber ich kann selbst entscheiden, ob ich so viel arbeiten möchte. Ich tue es, weil es mir Freude macht. Dies gibt meinem Leben einen Sinn. Hätte ich Kinder, hätte ich vielleicht andere Prioritäten.

 

Und als Bundesrat?

Als solcher hätte ich keine Wahl mehr und könnte das Pensum nicht mehr reduzieren. Das ergibt sich aus der grossen Verantwortung. Auch könnte ich wohl nicht mehr in Shorts an ein Konzert gehen.

Trotzdem wollen Sie Bundesrat werden?

Ja, weil ich mich für die Menschen in diesem Land engagieren will. Als Bundesrat könnte ich zusammen mit sechs anderen viel gestalten. Das fasziniert mich.

Haben Sie als FDP-Fraktionschef Gefallen an der Macht gefunden?

Ich habe Gefallen am Gestalten gefunden. Ich will mithelfen, Lösungen für die Herausforderungen dieses Landes zu erarbeiten. Macht ist nur ein Mittel, um Ziele zu erreichen.

Und  Geld? Als Präsident des Krankenkassenverbands Curafutura kriegen Sie jährlich 180 000 Franken für ein Nebenamt. Ist dies nicht schon nahe bei der Korruption?

Es gehört zum Schweizer Milizsystem, dass man neben seiner politischen Tätigkeit noch arbeitet. Hätten wir ein Berufsparlament, wäre das anders. Das würde aber nicht zu unserem Land passen. Warum werde ich derart kritisiert, dass ich für Krankenkassen arbeite? Man könnte meinen, die Kassen seien eine Terrorgruppe wie der IS. Stattdessen sind sie im Grundversicherungsbereich Non-Profit-Organisationen, die als Treuhänder der Versicherten handeln und vom Volk mehrmals als Bestandteil unseres Gesundheitswesens gutgeheissen  wurden.

Das miese Image der Kassen sollte Ihnen als Verbandspräsident zu denken geben.

Ich frage mich, was die Krankenkassen falsch gemacht haben, dass ihr Ruf derart schlecht ist – vor allem in der Romandie und im Tessin. Niemand kämpft mehr gegen die Prämienerhöhungen als die Kassen. Was kann daran so falsch sein?

Trifft Sie die Kritik persönlich?

Zum Teil schon. Ich arbeite Tag und Nacht für ein gutes Gesundheitssystem zu bezahlbaren Preisen. Und werde dafür gescholten. Wo ist hier die Logik? Als ich für die Ärzteverbindung FMH arbeitete, setzte ich mich unter anderem für eine gute Bezahlung der Ärzte ein. Dafür wurde ich nicht kritisiert, obwohl dies die Prämien steigen lässt.

Als Sie vor zehn Jahren im Nationalrat begannen, politisierten Sie am linken Rand der FDP. Seither sind Sie kontinuierlich nach rechts gerutscht. Warum?

Weil ich gewisse Zusammenhänge besser verstanden habe. Deshalb stehe ich konsequenter für liberale Lösungen ein. Vor meinem Einstieg in die Politik war ich Präventivmediziner. Als solcher machen Sie die Erfahrung, dass staatliche Vorgaben am meisten bringen. Ein Rauchverbot etwa hält viel mehr Leute vom Rauchen ab als eine Informationskampagne. Erst später realisierte ich, dass solche Vorgaben die Leute Schritt für Schritt in eine Bevormundung führen.

Wird sich Ihr Rechtsrutsch im Bundesrat fortsetzen?

Ich politisiere seit etwa fünf Jahren ziemlich genau in der Mitte der FDP- Fraktion. Und auf dieser Linie werde ich bleiben.

Didier Burkhalter hat öfter mit den beiden SP-Bundesräten und Doris Leuthard gestimmt. Wäre dies bei Ihnen auch so?

Mir liegen die Protokolle des Bundesrats nicht vor. Aber eines weiss ich: Ich politisiere klar auf einer liberalen Linie.

Der Bundesrat würde mit Ihnen also nach rechts rutschen?

Ich bin sowohl wirtschafts- als auch gesellschaftsliberal. In den gesellschaftspolitischen Fragen würde sich wohl nicht viel ändern.

In Fragen der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik hingegen schon. Hätten Sie zum Beispiel darauf verzichtet, dass private Unternehmen ihre Löhne auf Frauendiskriminierung überprüfen lassen müssen?

Das ist gut möglich, wobei ich sagen muss, dass ich die Diskussion im Bundesrat nicht mitbekommen habe. Ich kenne also nicht alle Argumente. Auch bin ich selbstverständlich für gleiche Löhne für Mann und Frau. Eine Zwangsüberprüfung lehne ich als Liberaler aber ab.

Dies wird die Linke nicht gerne hören. Bereits bei der AHV-Reform haben Sie mit der SP und deren Präsident Christian Levrat verkracht. Rächt sich dies nun bei den Bundesratswahlen?

Ich hoffe es nicht. Aber ich kann nicht für ihn sprechen.

Dafür holen Sie mehr Stimmen der Rechten?

Das ist ebenfalls möglich. Die Dramatisierung der Auseinandersetzung um die Rentenreform stört mich. Man muss sich als Gegner ja fast eine Verletzung der Menschenrechte vorwerfen lassen.

Die Bundesratswahl findet in derselben Woche statt wie die Volksabstimmung. Werden Sie sich im Abstimmungskampf zurückhalten?

Ich habe als Bundesratskandidat kaum Zeit, mich hier stark zu engagieren. Aber meine Kandidatur wird an meiner Überzeugung nichts ändern.

Die SVP hat bereits angekündigt, sie wähle niemanden, der für die Übernahme von fremdem Recht sei. Spuren Sie?

Der Bundesrat hat ja noch kein Resultat der Verhandlungen mit der EU vorgelegt, sondern erst seine Idee präsentiert.

Taugt sie?

Das kann man noch nicht sagen, solange keine Verhandlungsergebnisse vorliegen. Die vorgeschlagene Lösung mit dem Europäischen Gerichtshof scheint mir aber ein schwieriger Weg zu sein.

Ist die Schweiz nicht unter Zeitdruck?

Nein. In der EU bewegt sich gegenwärtig vieles – etwa mit den Brexit-Verhandlungen.  Dies gilt es zu beobachten.

Die Masseneinwanderungsinitiative: Hätte man sie verfassungstreu mit Quoten umsetzen müssen?

Nein, da war ich dagegen.

Auf Ihrer Website steht das Gegenteil.

Dort habe ich seit 2015 kein Update mehr durchgeführt. Es wäre wohl an der Zeit, dies jetzt nachzuholen. Seither ist viel passiert, und die Quoten haben sich als untauglich herausgestellt.

Was würden Sie als Ihren grössten politischen Erfolg bezeichnen?

(denkt lange nach) Die Verbesserung des Risikoausgleichs unter den Krankenkassen, die ich zusammen mit der damaligen SP-Nationalrätin und heutigen Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr durchgebracht habe. Dies gilt unter Gesundheitsökonomen als die Mutter aller Reformen.

Was war Ihr grösster politischer Misserfolg?

Die Niederlage mit der sogenannten Managed-Care-Vorlage vor dem  Volk.

Was haben Sie damals falsch gemacht?

Ich habe mich zu stark persönlich im Abstimmungskampf eingebracht – vor allem im eigenen Kanton. Und es war keine gute Idee, die Vorlage mit einem englischen Titel zu versehen, der eine Nähe zu Managern suggerierte.

Würden Sie sich als entscheidungsfreudig bezeichnen?

Ja.

Vor einem Jahr sagten Sie dem TA noch, Sie seien eher Moderator als Vordenker. Brauchte es im Bundesrat nicht einen Gestalter?

Es braucht beides. Ich sehe mich im Bundesrat als Moderator, im eigenen Departement als Gestalter.

Können Sie mehrere Tausend Mitarbeiter führen?

Ich traue es mir zu. Der von mir präsidierte Heimverband Curaviva hat 2800 Mitglieder mit 130‘000 Angestellten und macht 25 Millionen Franken Umsatz.

Finden Sie, dass Sie die FDP-Fraktion und die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit gut führen?

Ich glaube schon. Das zeigen mir Feed-backs, die ich von Kommissionsmitgliedern erhalte. Auch in der Fraktion sagen jene, die mich nicht gewählt haben, sie seien zufrieden.

Wenn Sie frei wählen könnten: Welches Departement würden Sie als Bundesrat am liebsten  führen?

Ich habe mir diese Frage nicht gestellt, weil ich weiss, dass die Regeln anders lauten: Der Neue nimmt, was bleibt. Ich überlasse diesen Entscheid anderen.

Null Präferenzen?

Man würde ja erwarten, dass ich das Departement des Inneren mit der Gesundheits- und Sozialpolitik nenne, mit der ich mich bisher intensiv beschäftigt habe. Aber vielleicht ist es besser, ein anderes Departement zu übernehmen, zu dem man mehr Distanz hat. Es gibt ja genügend Experten in der Verwaltung. Der Bundesrat hingegen muss den Wald sehen, nicht die Bäume. Im Innendepartement sehe ich mittlerweile sogar die einzelnen Blätter.

In welchem Departement hätten Sie es am schwierigsten?

Wahrscheinlich im Finanzdepartement. Ich bräuchte Jahre, bis ich die Budgets und Rechnungen verstanden habe. (lacht)

Gibt es unter den gegenwärtigen oder ehemaligen Bundesräten jemanden, der Ihnen ein Vorbild ist?

Stark inspiriert hat mich Kaspar Villiger. Durch ihn und seine Bücher habe ich viel über Liberalismus gelernt. Pascal Couchepin wiederum ist ein Vorbild wegen seines politischen Feuers. Seine Freude an der politischen Auseinandersetzung wirkt ansteckend. Auch auf mich.

Wie hoch schätzen Sie Ihre Chancen, als Bundesrat gewählt zu werden?

Anders als vor acht Jahren bin ich nicht nur Fahnenträger. Die Chance ist da. Aber es ist noch nichts gewonnen.

 



 

Politischer Späteinsteiger

Ignazio Cassis kam relativ spät zur Politik – als Quereinsteiger. 2003 suchten die Tessiner Freisinnigen einen Arzt als Füller für ihre Nationalratsliste. Der damals 42-jährige Kantonsarzt sagte zu und landete zu seiner eigenen Überraschung auf dem ersten Ersatzplatz. Vier Jahre später wählte das Tessiner Volk Laura Sadis in den Regierungsrat,und Cassis war Nationalrat. Ursprünglich politisierte er am linken Rand seiner Partei. Seither ist er kontinuierlich nach rechts gerutscht. Heute politisiert der Tessiner in der Mitte seiner Fraktion. Statt Brücken nach links baut er jetzt eher welche nach rechts.

2015 wurde er FDP-Fraktionschef. Daneben präsidiert Cassis sowohl den Krankenkassenverband Curafutura als auch den Heimverband Curaviva. Und er ist Präsident zweier Gesundheitsstiftungen. (is.)

 

Autori

Ignazio Cassis

Ignazio Cassis