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Qualität als oberste Maxime: 7 Thesen zum Nachdenken / La qualité comme priorité absolue: Sept thèses qui incitent à réfléchir

08.06.2017

Swiss Leading Hospital, 8.06.2017 (Version FR en document pdf)

Einführung

Kaum ein Begriff ist derart positiv besetzt und gleichzeitig undefiniert: Die Qualität im Gesundheitswesen. Das Thema ist in aller Munde, doch versteht darunter nicht jeder das Gleiche. Qualität ist – vereinfacht gesagt – Meinungssache, abhängig von Erwartungen und Perspektiven. Qualität hat eine Bedeutung für Patienten, eine andere für Leistungserbringer – mit grossen Unterschieden, ob es sich um Ärzte, Apotheker, Pflegende oder andere Gesundheitsberufe handelt. Und nochmals anders interpretieren Spitäler, Pflegeheime, sowie Versicherer, Ökonomen und Politiker den Begriff Qualität. Für alle gilt jedoch: Qualität ist die oberste Maxime! Mit folgenden 7 Thesen möchte ich eine kritische Betrachtung der Qualität anregen.

These 1: Qualität ist nicht Sache der Kantone allein

Wegen seiner Komplexität war das Thema Qualität historisch gesehen immer Sache der Leistungserbringer. Weil diese zu einem wesentlichen Teil über das KVG sozusagen staatlich finanziert werden, mischt sich auch der Staat ein. Aber welche staatliche Ebene ist verantwortlich? Die Schweiz ist föderalistisch aufgebaut. Nicht der Bund, sondern die Kantone sind primär für das Gesundheitssystem zuständig: So wollen es Volk und Stände. Seit eh und je befassen sich die Kantone entsprechend auch mit dem Thema Qualität, vor allem in „gesundheitspolizeilicher“ Hinsicht. So benötigen beispielsweise die Ausübung des Arztberufes oder die Eröffnung eines Spitals eine kantonale Bewilligung, die an spezifische Auflagen geknüpft ist. Damit beeinflussen die Kantone die Struktur der Gesundheitsversorgung und die verfügbaren personellen und infrastrukturellen Ressourcen massgeblich. Die gesundheitspolizeiliche Perspektive befasst sich vor allem mit der Strukturqualität. Aber genügt das?

These 2: Gute Qualität senkt Bürokratie

Je arbeitsteiliger die Tätigkeiten im Gesundheitswesen werden, umso wichtiger wird Koordination und Dokumentation, um die Qualität sicherzustellen. Gemeinsame Kultur und gegenseitiges Vertrauen wird mit Prozessen und Verfahren ersetzt. Damit steigt der Anteil an Dokumentation. Für das Pflegepersonal in Spitälern und Pflegeheimen, für Assistenzärztinnen und –ärzte, für niedergelassene Ärzte wird Qualität zu einem Reizwort: Es bedeutet mehr Messungen, mehr Fragebogen, mehr Papier, mehr Zeit und weniger klinische Arbeit. Eine bürokratische Übung! Der Mehrwert für die Patienten ist hingegen selten ersichtlich, da heute aus diesen Informationen zu wenig Transparenz für Patienten resultiert und damit auch noch kein Qualitätswettbewerb ermöglicht wird. Die Industrie macht es jedoch vor: Gute Qualität – integriert in die Leistungserbringung – bedeutet „automatische“ Dokumentation und damit weniger „Bürokratie“. Daran sollen wir uns orientieren!

These 3: Qualität senkt Kosten

„Qualität kostet: Das Gegenteil ist eine Behauptung“ - dies ist das heutige Paradigma. „Bewiesen“ hat es das Schweizer Volk mit dem wuchtigen Nein im 2012 zur Vorlage Managed-Care. Jene Reform der ambulanten Medizin versprach bessere Qualität zu geringeren Kosten. Heute ist dies bei der integrierten Versorgung wissenschaftlich belegt: Qualität senkt Kosten. Dennoch war es 2012 für die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger nicht nachvollziehbar: Schliesslich kostet ein gutes Paar Schuhe mehr als ein schlechtes – eben billiges – Paar Schuhe!

Die Ansätze zur Prozessoptimierung im Gesundheitswesen zeigen, dass mit einer smarten Gestaltung der Prozesse die benötigten Ressourcen reduziert werden können, ohne die Zeiten für den direkten Patientenkontakt zu reduzieren oder neue Wartezeiten für Patienten entstehen zu lassen.

These 4: Qualität ist mehr als Ideologie und Marketing

Häufig wird Qualität zum argumentativen Spielball, so etwa für Gewerkschaften oder in der Werbung: Qualität hat hier eine moralische Besetzung. Sie wird zum Argument um die gute Medizin vor der bösen Wirtschaft zu schützen. Die Ökonomisierung der Medizin wird als Reizwort empfunden und wird vielfach – anders als in vielen anderen Wirtschafsbereichen – mit schlechterer und nicht mit besserer Qualität in Verbindung gebracht. Weit verbreitet ist die Meinung, dass Systemänderungen im Gesundheitswesen a priori mehr Geld kosten müssen und dürfen, da sonst „die Qualität leidet“. Befürchtet wird z.B. eine Reduktion der Kontaktzeit zwischen Patienten und Leistungserbringer, d.h. ein Verlust an Beziehungsqualität. Qualität wird somit zu einem Instrument, um z.B. das medizinische Personal nach Wunsch aufzustocken oder Infrastruktur auszubauen (Strukturqualität). Dies mit der impliziten - jedoch unbewiesenen - Annahme, Qualität sei eo ipso von der Quantität der Fachkräfte, der Geräte usw. abhängig. Die moralische Erklärung liegt auf der Hand: Die Patienten verdienen die beste Qualität, und sie darf wohl auch was kosten! Dieses Argument machen sich Leistungsanbieter zu Nutze.

Im Wettbewerb werden Q-Zertifikate (ISO, KTQ, IJCA, usw.) immer mehr kommunikativ genutzt. Daraus lassen sich zwar Rückschlüsse auf die Struktur- und Prozessqualität ziehen, jedoch nur sehr eingeschränkt auf die konkrete Ergebnisqualität. Hier fehlen aussagkräftige Instrumente noch weitgehend. Dennoch führt der beginnende Qualitäts-Wettbewerb zur Ausnutzung aller Art Q-Zertifikate für Werbezwecke und wird medial genutzt, unabhängig von der Relevanz für das Resultat am Patienten.

These 5: Qualität braucht Anreize

Ärzte sind Menschen. Und Menschen reagieren auf Anreize. Doch welche Vorteile haben Spitäler und Ärzte, sich mit der Qualität zu befassen? Bei den Spitälern, wo der Preis der Leistungen für jedes Spital individuell festgelegt wird (Baserate im swissDRG-System), werden Qualitätsmerkmale (u.a. QM-Programme, Q-Zertifikate, ANQ-Indikatoren) zum Teil mitberücksichtigt. Gute Qualität schafft neben finanziellen, auch Wettbewerbsvorteile, da sie in den Spital-Suchmaschinen und Qualitätsberichten – allerdings mit den oben gemachten Einschränkungen -  auch nach aussen transparent gemacht werden kann.

Anders sieht es im Bereich der niedergelassenen Ärzte aus. Nicht, dass diesen Ärzte gute Qualität egal ist, im Gegenteil. Ärzte in der Praxis haben immer wieder und mit unterschiedlichen Zielen und Perspektiven Qualitätsmanagement-Modelle und –Standards entwickelt, allerdings mit dem Fokus der internen Qualitätsentwicklung. Es war nicht Ziel dieser Q-Systeme den Qualitätsgewinn nach aussen zu dokumentieren. Das erklärt, warum die unterschiedlichen Q-Systeme – ich denke bspw. an die EQUAM-Zertifikate – nie wirklich populär geworden sind.

Ohne Anreize bewegt sich der Mensch aber nicht. Dabei wirken die vier bekannten Anreize – fun, glory, money, repression – unterschiedlich.  Funny sind Qualitätsbemühungen kaum, glory setzt Transparenz voraus: Auch damit lassen sich längerfristig nur wenige Pioniere motivieren. Für die Mehrzahl der Leistungserbringer wäre money ein wichtiger Anreiz. Dies setzt ebenfalls Transparenz voraus und den Nachweis eines ökonomischen Nutzens, der dann zwischen Leistungserbringern und Versicherten geteilt werden könnte. Die Politik schliesslich ist immer wieder gezwungen die steigenden Gesundheitskosten gegenüber der Bevölkerung zu begründen. Neben der Alterung der Gesellschaft ist die hohe Qualität ein populäres Argument. Mit einem Top-down-Ansatz versucht sie daher mit repression, mit der Androhung von Sanktionen, bessere Qualität zu erreichen. Nicht an der Qualitätsdokumentation und -entwicklung teilnehmende Spitäler oder Ärzte sollten nicht zur Abrechnung mit der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zugelassen werden. Repression ist für die Leistungserbringer inakzeptabel. Für die Politik scheint es gerade umgekehrt (siehe These 6). Fakt ist: Qualität muss sich lohnen!

These 6: Qualität braucht geeignete Regulierung

Der Sinn staatlicher Regulierung ist es, Marktversagen zu verhindern oder zu korrigieren. Die Mediziner waren als Freiberufler während Jahrhunderten selber für die Qualität des eigenen Handelns zuständig und haben als Profession entsprechende Standards entwickelt. Freie Berufe sind mitunter dadurch gekennzeichnet, dass sie sich selber regulieren, die Ausbildung festlegen und über ihre Tätigkeit forschen. Mit dem Krankenversicherungsgesetz (KVG) wurde 1996 die Selbstregulierung relativiert. Erstmals wurde die Qualität in der Medizin politisch, d.h. „fremd“, reguliert. Mit KVG Art. 58 bekam der Bundesrat die Möglichkeit, Qualitätssicherung zu überprüfen und aktiv anzugehen. Glücklicherweise begnügte er sich damit, die Vertragspartner zu beauftragen, die Qualitätsthemen vertraglich miteinander zu regeln. Dies ist eine klare Kompetenzdelegation an die Tarifpartner und eine Freiheit, deren Potential jedoch aus verschiedenen Gründen nicht wirklich genutzt wurde. Wie jede andere Kompetenzdelegation auch, setzt sie Vertrauen voraus.

These 7: Qualität braucht Vertrauen

Vertrauen ist aber in der modernen Gesellschaft, auch im Gesundheitswesen, immer seltener. Vertrauen wird immer mehr durch Verfahren – Regulierung und Vorgaben – ersetzt. Diese Vorgaben werden aus anderen Bereichen übernommen und entsprechen den Besonderheiten der Gesundheitsversorgung und den Ansprüchen der Patienten nicht oder nur teilweise. 2006 – nach 10 Jahren KVG – liess das Parlament die Umsetzung der Qualitätssicherung im schweizerischen Gesundheitswesen überprüfen. Das Resultat war unbefriedigend: Die Bemühungen der Vertragspartner wurden als ungenügend bewertet. In der Folge wurde eine Qualitätsstrategie ausgearbeitet (2009), mit welcher der Bund die Führungsrolle übernahm. 2014 wurde vom Bund eine neue, zentralistische Regulierung vorgeschlagen, die von den verschiedenen Akteuren im Gesundheitswesen abgelehnt wurde. 2016 unterbreitete der Bundesrat dem Parlament einen neuen Gesetzesentwurf, welcher noch immer zentralistische Vorgaben möglich macht als Alternative und/oder Ergänzung zur Qualitätsentwicklung durch die Vertragspartner.

Fazit



1999 wies das U.S. Institute of Medicine (IOM) mit seiner Publikation "To Err is Human: Building a Safer Health System" nach, dass Patientinnen und Patienten im Zusammenhang mit medizinischen Behandlungen geschädigt werden können. Bis zehn Prozent aller Behandlungen führen so angeblich zu einer vermeidbaren – teils tödlichen – Schädigung. Der Bund errechnete für die Schweiz ca. 2‘000 vermeidbare Tote pro Jahr. Diese und andere Berichte sind besorgniserregend. Darum gerät die Politik unter Druck. Es besteht die Gefahr, dass die Qualitätsentwicklungen in die falsche Richtung gehen: Anstatt wirksame Anreize zu schaffen, kann Qualität in bürokratischen Leerläufen enden, in Datenfriedhöfen, die keine Relevanz im klinischen Alltag und keinen Mehrwert für die Patienten haben. Schlechte Qualitätsnormierungen führen dazu, dass sich Ärztinnen und Ärzte mehr mit der Statistik als mit den Patienten befassen. Diese Sorgen sind echt, wie auch der Anspruch der Bevölkerung, wonach Qualität klinisch gelebt werden und nicht zum Papiertiger zur Befriedigung der Politik werden soll. Ein Mentalitätswandel der Vertragspartner, insbesondere der Leistungserbringer hin zu mehr aktiver Qualitätsentwicklung ist gefragt. Aber auch ein Kulturwandel der Politik, die wieder die Fähigkeit entdecken muss, mehr Vertrauen zu schenken als Verfahren zu verlangen. Aus den Fehlern der Vergangenheit soll man lernen. Auch das ist Qualität!