Die Freude der Begegnungen
Der Staudamm, am Anfang der Wanderung, scheint mit seinem Zementufer absichtlich aufgestellt worden zu sein, um als Kontrast zu den natürlichen Ufern zu dienen, denen man nach und nach begegnet.
Nachdem man zwischen kleineren Konstruktionen (aus einem von ihnen tritt das Wasser aus der Dunkelheit hervor und erblasst unter dem allzu intensiven Licht schlagartig) und Felsblöcken, die einen glauben machen wollen, sie seien soeben heruntergefallen (man scheint sogar den feurigen Geruch ihres Aufschlags zu riechen), emporgestiegen ist, stösst man bereits auf solche Naturufer, diejenigen nämlich des ersten Sees unserer Wanderung. Der Orsino hat zwei verschiedenartige Ufer, ein steiniges und ein grasbewachsenes. Letzteres scheint vom See zum Gotthardpass hin abzuwandern, wie wenn es sich von diesem touristischen Hintergrund angezogen fühlte.
Die Herzogin von Devonshire würde heute von diesem Strassengewinde wohl kaum mehr sagen "l'horreur même a ses charmes". Auch nur eine leichte Volumenvergrösserung würde den Orsino überlaufen lassen und in einen Wasserfall verwandeln. Vorläufig liegt er jedoch ruhig da, von Felsen umgeben, die ihn vor dem Wind schützen und seine glatte Oberfläche unversehrt lassen; auch die Spuren der Forellen und Insekten verlieren sich sogleich wieder - gleichsam als hätten sie erkannt, dass sie stören -, um dem Wasser einen Augenblick später wieder seinen glatten und ruhigen Farbton zu überlassen. Wo der Orsino wie kleinste Golfe bildet, färbt er sich tiefblau und mischt sich kaum mit dem Rest, als handle es sich um eine unlösliche Flüssigkeit. (Die Alphütte steht hingegen bewusst abseits vom See, um dessen idyllische Einsamkeit, die einzig durch das leicht exotische Gelb der Arnika geschmückt wird, nicht zu stören.)
Ebenso wie der Orsino erscheint auch der erste der Orsirora-Seen aus der Höhe betrachtet viel grösser, als er tatsächlich ist. Er übernimmt die Farben des zwischen den Mäandern wachsenden Grases, das von einem allzu satten in ein kaum erkennbares Grün überwechselt. Um diesem Gras Platz zu machen, zieht sich der kleine See in das ebenfalls ihm gehörende Tal zurück, geht langsam weiter, bis er zum Fluss wird, und hält plötzlich inne, als sei ihm klar geworden ist, dass er seinen Charakter und seine Funktion verraten hat.
Anders der zweite Orsirora, der in seinem durchsichtigen Blau wundervoll glänzt und auf dessen Grund die Steine wie seltene Museumsstücke in einer Vitrine funkeln. Der See strahlt eine überaus grosse Ruhe aus, die sich wie ein Mantel über die nächste Umgebung legt und die unruhigen Bergspitzen und -kämme zurücktreten lässt.
Ein Ort unermesslichen Friedens, der das ganze Leben des Orsirora prägt: das die Weite suchende, sachte gegen die Ufer drängende Wasser; das den Farbton seiner Oberfläche verändernde Zucken der Fische (als ob ein Lichtstrahl fallen würde); die Vögel, die das Wasser streifen, als stiegen sie soeben daraus empor (der Wind hingegen glättet es, indem er es knapp berührt, und verleiht ihm damit eine scheinbare Kälte).
Der obere Orsirora ist ein ruhiger See; der erste der Valletta-Seen, auf den man später trifft, präsentiert sich lieblich und überschaubar, auch wenn ein grosser Felsblock ihn betrachtet, mit dem man den kleinen See unwillkürlich vergleicht (trotz seiner kleinen Gestalt hat er sein eigenes Delta und nimmt die flüchtigen Widerspiegelungen der vorbeiziehenden Wolken sowie die hartnäckigen Reflexe der umliegenden Schneefelder, die den Anschein fauler Wolken erwecken, in sich auf).
Der zweite Valletta, der vom ersten gespeist wird, muss aus der Höhe betrachtet werden, will man seine sämtlichen Farbabstufungen wahrnehmen, die von einem mit einer Nuance Schwarz getränkten Blau in ein smaragdgrün-gestreiftes Silber übergehen, von einem Grau, das sich an manchen Stellen Goldtönen zu nähern wagt, in ein Grün, das wellige Grasbüschel auf das Wasser wirft und sie ausbreitet, als ob es sie trocknen wollte.
Nach einer Weile begegnet man auf der Wanderung, die sich ausgezeichnet für Familien eignet und den Zauber eines ständig wechselnden Naturschauspiels in sich birgt, einem namenlosen See, der an ein Schwimmbassin erinnert. Er wird von einer weichen Moosmatte eingerahmt, die ihren Grundton mit unglaublicher Erfindungsgabe variiert und von pastos auf gesprenkelt, von grell auf blass übergeht (einige Meter von ihm entfernt kann man der ersten Orsirora wieder erkennen, dessen Durchsichtigkeit aus der Höhe betrachtet von weissen Streifen durchsetzt zu sein scheint: eine gleichmässige Zeichnung, die den See in seiner ungezähmten Form noch mehr in die Länge zieht und absolut keinen Anspruch auf eine pittoreske Erscheinung erhebt.)
Schliesslich gelangt man zum Lucendro-See, und unwillkürlich dringen einem die Worte von Maria Luisa Pometti ans Ohr, die 1912, als noch kein Elektrizitätswerk stand, den See beschrieb: "Der kleine Lucendro-See war ganz von Schneebergen umgeben, auf welche die Sonne eine Handvoll Topase, Amethyste und Rubine ausgestreut zu haben schien; um den See schimmerte lauter Grün, in den herrlichsten Tönungen, und am Ufer schlief ein verlassenes Boot".
Das Boot ist nicht mehr da. Hingegen erhebt sich die Staumauer vor uns, die jetzt, am Ende der Wanderung, noch viel grösser erscheint.